
Auf der Grenze zwischen Brasilien und Argentinien verlaufen die Iguacu-Fälle. Und auf der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay steht der Itaipu-Staudamm. Beide sind Symbole für die schiere Kraft des Wassers. Die man wirklich spürt, wenn man dort ist.
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Die Ankunft in Foz de Iguacu gestaltet sich schwieriger als gedacht. Ich erreiche den Busbahnhof und suche dort den Bus in die Stadt. Und finde den auch recht schnell. Im Bus treffe ich einen deutschen Verwaltungsfachangestellten, der vor einem Jahr seinen Job an den Nagel gehängt hat und seitdem in Foz de Iguacu lebt. Und von dort aus durch die Gegend reist. Er erzählt mir in unglaublich prägnanter Kurzform seine Lebensgeschichte und verabschiedet sich dann genau so schnell wieder wie er gekommen ist. Bevor ich auch nur den Gedanken beginnen kann, wie faszinierend es ist, dass ein so biederer Typ wie er einfach ausbricht und den Traum lebt, den wahrscheinlich viele Beamte hinter einem grauen Schreibtisch träumen, ist er plözlich wieder aus dem Bus und meinem Leben verschwunden. Wie ein Hauch. Da und sofort wieder weg.
Ich prüfe noch einmal bei Google Maps, wo das Hostel liegt, das ich im Voraus gebucht habe und checke, wo ich mit dem Bus gerade bin. Noch eine Haltestelle, denke ich mir, dann bin ich da. Oder ich bleibe noch eine Weile länger drin und bin dann wohl sogar etwas näher dran. Die Karte auf dem Handy und die Karte auf der Webseite sind irgendwie uneindeutig. Ich bleibe noch eine Haltestelle drin. Und dann bleibt der Bus plötzlich nicht mehr stehen. Sondern fährt und fährt und fährt. Aus der Innenstadt heraus über eine Art Landstraße. Und ich werde unruhig. Das Stadtbild ändert sich rasch. Von einer belebten, mit Touristen gefüllten Stadt, fahre ich plötzlich durch ein Ghetto. Es ist hellichter Tag, aber trotzdem fühle ich mich nicht mehr ganz so sicher wie zuvor. Ich beobachte, ob es einen Bus gibt, der uns entgegen kommt und eventuell wieder in die Stadt zurück fährt. Die Busse hier haben aber keine Nummern und ich fürchte, dass ich dann in eine ganz falsche Richtung fahren könnte. Also entscheide ich, lieber sitzen zu bleiben und darauf zu warten, dass der Bus umdreht und wieder zurück fährt. Auch wenn das sicherlich viel länger dauern wird. Ich mache das Beste draus und schaue mir an, wie die Stadt an mir vorüber zieht und immer wieder ihr Gesicht ändert. Inzwischen, eine halbe Stunde später, sind wir offensichtlich im Reichenviertel angekommen. Überall Häuser mit Garten und vernünftigen Autos vor der Tür. Also für uns normale Autos, für Brasilien bzw. Foz de Iguacu wahrscheinlich ziemliche Reichtümer. Der Bus fährt inzwischen über kleine Sträßchen mit Kopfsteinpflaster und ich bekomme langsam Zweifel, ob der überhaupt jemals zurück in die Stadt fährt. Die Frage, was ich mache, wenn nicht, wird in meinem Kopf immer größer. Das Blöde ist, dass ich keine Antwort darauf habe. Ein Taxi anhalten wird hier draußen wohl nicht funktionieren. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich schon in so ein Haus reinlaufen und auf Englisch fragen, ob sie mir sagen können, wie ich in die Stadt komme. Und feststellen, dass sie kein Englisch sprechen.

In diesem Moment spricht mich ein junges Mädchen an, ob ich wüsste, wo ich hin fahre. Sie spricht englisch. Ich schildere ihr, was passiert ist und sie lacht und beruhigt mich. Und sagt, dass der Bus gleich wieder zurückfahren werde. Und dass es keinen Bus in die Gegenrichtung geben würde. Es war also ganz richtig, einfach sitzen zu bleiben. Wir unterhalten uns noch ein bisschen. Sie ist Schülerin und hat heute Geburtstag. Ich singe ihr spontan Happy Birthday und gratuliere ihr. Wir quatschen noch ein bisschen, dann ist sie zuhause angekommen, hüpft aus dem Bus und ich bin wieder allein. Aber mit einem Lächeln auf den Lippen und dem Wissen, dass doch alles gut wird. Ich genieße die weitere Fahrt und stelle fest, dass wir tatsächlich wieder in die Stadt fahren. Allerdings eben auf einer anderen Route als die, aus der wir gekommen sind. Wir fahren wieder durch den Busbahnhof. Ich habe jetzt also tatsächlich eine komplette Runde gedreht. Na gut. Diesmal erwische ich die richtige Haltestelle, springe raus und mache mich auf den Weg zum Hostel. Das ist leider noch mal ein guter Kilometer. Bei 35 Grad im Schatten und einem schweren Rucksack auf dem Rücken wahrlich kein Zuckerschlecken. Ich komme also total durchgeschwitzt im Hostel an. Checke ein und setze mich gleich mit dem Empfangstypen hin. Zwei Tage habe ich, sage ich ihm, dann geht’s weiter auf die argentinische Seite von Iguacu. Wir planen meinen Aufenthalt fast minutiös. Morgen solle ich mir erstmal die Wasserfälle anschauen. Am Tag darauf dann den Itaipu-Staudamm. Für den würde ich nur einen halben Tag brauchen und könnte dann am Nachmittag mit dem Bus nach Argentinien fahren. Jetzt schnell ins Bett, damit ich fit für den Sightseeing-Marathon bin.
Als ich an den Wasserfällen ankomme und das erste Mal das Rauschen höre, bin ich sofort gefangen. Es heißt, dass die Kraft des Wassers irgendwie positive Ionen freisetzen würde. Jedem Chemiker und jedem Physiker wird bei diesem Satz wahrscheinlich ein kalter Schauer über den Rücken wandern. Aber abseits aller logischen Fehler finde ich, dass die Vorstellung irgendwie schön ist. Und irgendetwas Positives (im nicht-elektrischen Sinne) erlebt man tatsächlich, wenn man an diesem Ort ist. Wasser hat etwas sehr Lebendiges. Darum leben Menschen ja auch so gerne am Wasser. Und bewegtes Wasser hat etwas Kraftvolles, Positives, Starkes, das auf einen abstrahlt.

Mir öffnet sich ein erstes Panorama über die Iguacu-Wasserfälle und ich mache mein erstes Foto. Endlich bin ich an dem Ort angekommen, der immer eine magische Anziehung auf mich ausübte. Ich wollte schon seit ich denken kann einmal an diesen Ort kommen. Und wusste nie warum. Monate später, als ich für den 60. Geburtstag meines Vaters seine alten Fotoalben durchblättere, klappt mir der Mund nach unten. Ich finde in einem der Fotoalben genau dasselbe Foto wie eben jenes erste, das ich in diesem Jahr geschossen hatte. Die selbe Perspektive. Fast dasselbe Bild. Nur eben dreißig Jahre älter. Ich wusste nie, dass mein Vater auch an den Iguacu-Fällen war. Von seinen Reisen in den Iran hatte er erzählt, von Macchu Picchu und Taj Mahal. Aber nie von Iguacu. Trotzdem übte dieser Ort viel mehr Anziehung auf mich aus als eben Macchu Picchu und das Taj Mahal. Zufälle gibt’s.
Ich mache mich auf meinen Weg, die Fälle näher zu erkunden und finde direkt etwas, was mich fasziniert: Rafting an den Wasserfällen entlang. Buchbar für den späten Nachmittag. Ich frage, ob ich es schaffen würde, einmal die ganzen Wege abzulaufen und trotzdem rechtzeitig zum Rafting da zu sein und natürlich wird meine Frage bejaht. Alles tun um ein Ticket zu verkaufen. Ich schlage zu und freue mich jetzt schon darauf, später durchgeschüttelt und durchnässt zu werden. Erstmal aber geht’s darum, die Fälle aus allen Perspektiven zu betrachten und zu fotografieren. Das Ergebnis seht Ihr unten in der Galerie.
Natürlich wird am Ende alles knapp und ich muss mich sputen, um rechtzeitig zur Rafting-Tour zu kommen. Als ich am Ticket-Stand ankomme, sind alle anderen schon auf dem Weg nach unten und mir wird klar gemacht, dass ich hinterher rennen muss. Ich spurte über kleine Kieselwege und ein winziges Waldgebiet und stehe plötzlich gefühlte 200 Meter über dem Boden auf einer großen rostigen Eisen-Wendeltreppe. Und da muss ich jetzt runter. Mit meiner Höhenangst. Na super. Aber ich habe keine Zeit zu zögern. Unten sehe ich die Leute, wie sie schon am Boot sind und Helme aufhaben und auf mich warten. Also sause ich die Stufen hinunter und wundere mich, wie unwichtig Phobien sein können, wenn man keine Wahl hat.

Unten angekommen muss ich dann noch über Stock und Stein hüpfen um irgendwann am Ziel anzukommen: dem Boot.

Die Rafting-Tour gestaltet sich weit weniger aufregend als ich gedacht hätte. Ein paar Wellen und ein bisschen hoch und runter und ein bisschen nass. Aber so richtiger Nervenkitzel ist das nicht. Der kommt erst auf als uns die Anführer nacheinander zum Kapitän machen. Dafür muss man sich auf den hinteren Rand des Bootes stellen und zwei riesige Ruder bedienen. Und dann soll man Kommandos geben, damit die restlichen Leute im Boot rudern. Nachdem meine Vorgänger das etwas verhalten gemacht hatten und keiner so wirklich gerudert hatte, dachte ich, ich geb mal etwas Feuer rein. Und lasse mein nicht gerade leises Organ die Arbeit tun. Und schreie die Mannschaft an: FORWARD! ROW THE BOAT FORWARD! GO, YOU BITCHES! THIS IS WAR! FIGHT, ROW, FORWARD!
Statt zu rudern, scheint die Mannschaft eher konsterniert zu sein. Und die beiden eigentlichen Captains flüstern den beiden vor ihnen etwas zu. Im nächsten Moment klatschen die beiden Captains und die beiden anderen Jungs mit ihren Rudern so ins Wasser, dass ich mächtig geduscht werde. Und kaum mehr Luft bekomme, soviel Wasser fliegt mir ins Gesicht. Na gut. Hatte ich vielleicht verdient.
Nach der Fahrt trocknen wir alle noch ein wenig in der heißen Nachmittagssonne und dann geht’s zurück ins Hostel. Dort erwartet mich etwas ganz Besonderes: ein „Beer Tasting“. Das wäre für mich als Deutschen doch toll, wurde mir gesagt. Sold!

Am Abend habe ich einen ähnlichen Moment wie bei der Unterhaltung mit Nico – mir wird bewusst, dass ich doch nicht so viel deutsche Kultur in mir trage, wie ich manchmal gerne denke. Nicht nur habe ich weniger Hesse gelesen als der brasilianische Urwald-Führer. Nein. Jetzt sitze ich in Brasilien und lerne das erste Mal richtig was über Bier. Während des Beer-Tastings wird mir erklärt, wie die Brasilianer hier selbst angefangen haben, Bier zu brauen. Wie sie etwas Besonderes brauen wollten und nicht nur irgendwelche Standard-Biere. Mir werden Geschmacksnoten näher gebracht und beschrieben wie sonst nur bei guten Rotweinen. Und erklärt, wie die einzelnen Biere gebraut wurden. Wir bekommen von jeder Richtung (Pils, Ale, IPA und Weizen) einen Probierbecher und müssen unsere Meinung dazu abgeben. Das IPA schmeckt mir am Besten. Es ist auch mein erstes. Das Weizen finde ich überraschend gelungen. Hätte nicht gedacht, dass es Weißbier noch irgendwo anders auf der Welt gibt.
Beim Beer-Tasting freunde ich mich mit einem Pärchen an, das in einem anderen Hostel wohnt. Also richtig dort wohnt. Für ein paar Monate. Sie erfahren, dass ich hungrig bin und laden mich ein, mit ihnen zum Hostel zu kommen, weil es dort die beste Pizza der Welt gäbe. Ich sage zu und wir laufen gemeinsam hin. Statt 300 Metern sind es allerdings ungefähr drei Kilometer. Und als wir ankommen, dauert es nochmal eine halbe Ewigkeit, bis die Pizza da ist. Dafür ist sie ungelogen so groß wie ein Wagenrad. Da ich in der Zwischenzeit einen Liter Bier (normales) getrunken habe, kriege ich gerade mal zwei dünne Stücke in mich rein. Den Rest muss ich lang und breit überreden, das Ding mit mir gemeinsam zu essen. Wir sitzen noch stundenlang draußen rum und trinken und reden und irgendwann tief in der Nacht mache ich mich auf den Weg zurück in mein Hostel.

Am nächsten Tag geht’s zum Itaipu-Staudamm. Das Teil ist ein Gemeinschaftsprojekt von Brasilien und Paraguay und eines der beeindruckendsten Bauwerke, die Menschen je gemacht haben (finde ich). Es ist das größte Kraftwerk der Welt – auch nach Inbetriebnahme des Drei-Schluchten-Damms in China. Das liegt daran, dass letzteres nicht voll ausgelastet ist, Itaipu hingegen schon. Der Damm hat 20 Turbinen. Nur zwei davon haben ungefähr denselben Wasserdurchfluss (700 m³ pro Sekunde) wie die Iguacu-Wasserfälle um die Ecke.

Eine weitere Besonderheit über den Staudamm ist, dass er quasi ein eigenes Staatsgebiet darstellt. Brasilien und Paraguay haben das Ding gemeinsam gebaut. Auch, weil der Paranà, der hier aufgestaut wird, zu Teilen in Brasilien und zu Teilen in Paraguay liegt. Es musste also irgendwie eine Regelung her, die für beide Seiten akzeptabel ist. Man entschied sich letztlich, das Projekt nicht nur als gemeinsames Bauprojekt aufzuziehen, sondern als staatsunabhängiges Unternehmen. Der Gedanke war, dass beide Staaten eine Anschubfinanzierung zu gleichen Teilen geben und sich das Projekt hinterher selbst trägt. Das läuft so, dass Itaipu den entstehenden Strom an die Länder verkauft und sich von den Einnahmen über Wasser (haha) halten muss. Also Reparaturen durchführen, Löhne zahlen, Rücklagen bilden für die Erneuerung der Turbinen und so weiter.
Weil man verhindern wollte, dass durch einen politischen Umsturz in Brasilien (da steht der Staudamm geographisch) das Unternehmen verstaatlicht werden könnte, ist das Teil nicht nur ein eigenes Unternehmen, sondern sogar ein eigenes Staatsgebiet. Ich glaube zumindest, dass das der Grund war – gesichert ist diese Info aber nicht. Auf jeden Fall ist es so, dass man sich mit dem Betreten des Geländes nicht mehr in Brasilien befindet. Sondern in Itaipu binacional. Das läuft auch richtig mit Reisepass vorlegen und Sicherheitskontrolle (natürlich!) und so was alles. Und wenn man dann drin ist, dann ist das Ding auch in zwei gleich große Teile aufgeteilt. Eine brasilianische und eine paraguayische Seite. Mit einer Linie in der Mitte, die das genau trennt.

Allerdings ist nicht nur der Platz im Staudamm in genau zwei gleich große Hälften geteilt. Das Prinzip zieht sich streng durch alles durch, was man hier findet. Am Prägnantesten ist das im Kontrollraum. Der verfügt über zwei absolut identische Hälften. Zwei Steuerungszentralen, eine links, eine rechts. Und beide haben wechselseitig die Kontrolle über den Staudamm. Einmal ist für acht Stunden die brasilianische Seite am Drücker. Dann für acht Stunden die Paraguayische. Und dann wieder von vorn. Trivia am Rande: die Bildschirme, Hebel und Kontrollleuchten im Hintergrund sind nur noch Artefakte einer längst vergangenen Zeit. Kontrolliert wird der Staudamm mit den drei Bildschirmen, die vor dem Typen stehen.

Alles in allem ist der Besuch am Itaipu einfach gigantisch. Die puren Zahlen, die schiere Größe, die Kraft, die hier dahinter steht, hab ich bisher nirgendwo anders gesehen. Es ist ein beeindruckendes Bauwerk mit phänomenalen Zahlen: alle Turbinen zusammen produzieren über 2.000 Terawatt-Stunden Energie pro Jahr. Zum Vergleich: der Kernreaktor mit der höchsten Jahresproduktion schafft gerade mal über 12. Itaipu deckt mit dieser Menge an Strom fast den kompletten Bedarf von Paraguay (bei der Führung wurde von 90% gesprochen, auf Wikipedia steht 75%) und ein knappes Sechstel des Gesamtenergiebedarfs von Brasilien. Das führt dazu, dass Paraguay sich wirtschaftlich ganz gut gesund stößt mit dem Projekt. Denn laut Abkommen gehört der produzierte Strom den Ländern zu gleichen Teilen. Weil Paraguay mit so viel Strom gar nix anfangen kann, verkaufen sie einen großen Teil ihres Anteils einfach direkt wieder an Brasilien.

Natürlich sollte man an dieser Stelle nicht verschweigen, dass es auch kritische Stimmen gegenüber dem Itaipu gibt. So war der Bau des Staudamms damit verknüpft, dass einige Ländereien aufgegeben werden mussten, jede Menge Land überflutet wurde, Wasserfälle in der Größe von Iguacu ertränkt wurden und nicht zuletzt einige zehntausend Guarani-Indianer umgesiedelt werden mussten. Jetzt kann man da sicherlich geteilter Meinung drüber sein – ich ganz persönlich aber halte Kosten und Nutzen hier für deutlich gerechtfertigter als bei vielen anderen Methoden der Energiegewinnung. Vor allem wenn man bedenkt, wie umweltschädlich Kohlekraftwerke sind oder wie nachhaltig gefährlich Atomkraftwerke. Interessanterweise (und blöderweise, weil ich gehofft hatte, dass da noch Potenzial sei) nutzt Europa die zur Verfügung stehende Wasserkraft schon sehr effizient. Wir haben zwar kein so großes Teil wie den Itaipu. Aber wir haben halt auch keine so riesigen Flüsse wie den Paranal.
Ach ja, vor den Wasserfällen steht übrigens ein Roboter. Ganz oben hab ich Euch den schon mal gezeigt. Habt Ihr Fred gefunden? Nein? Hier isser:

Vom Staudamm geht’s direkt mit dem Bus nach Argentinien. Dabei muss man höllisch auf eine Sache aufpassen: bloß nicht den letzten Bus nehmen! Denn der Grenzübergang ist tückisch. Der Bus hält an der brasilianischen Seite der Grenze und schmeißt alle Fahrgäste raus. Die müssen sich dann ihren Pass zur Ausreise abstempeln lassen. Das dauert aber meistens so lange, dass der Bus einfach wegfährt und man eine halbe Stunde auf den Nächsten warten muss. Der letzte nächste Bus fährt aber um 18.00 Uhr. Und wenn man den verpasst, dann sitzt man irgendwo an der Grenze, ist gerade ausgereist und kann bis zum nächsten Morgen gucken, wo man bleibt.
Da ich das ja wusste, war alles kein Problem. Ich sitze halt ne halbe Stunde an der Grenze rum. Wo nicht wirklich was los ist. Außer einem Typen, mit dem ich ein bisschen Spanisch spreche. Also wahrscheinlich drei bis vier Sätze in einer halben Stunde. Ich kann ja kaum ein Wort. Wir lachen trotzdem beide viel. Dann kommt der nächste Bus und es geht weiter. Zur argentinischen Einreise. Die bestimmt fünf Kilometer weit weg ist. Dort hält der Bus, wir steigen alle aus, gehen ins Grenzhäuschen, lassen unser Gepäck scannen und unsere Pässe abstempeln und als wir nach ungefähr zehn Minuten wieder raus kommen, wartet der Bus auf uns. Die Einreiseprozedur hat definitiv länger gedauert als der Ausreiseprozess – aber da wartet der Bus. Muss man auch nicht verstehen.
Bei meiner Ankunft im Hostel in Puerto Iguassu ist früher Abend. Die Sonne macht immer noch ganz gut warm und ich trinke ein kaltes Bier im gemütlichen Garten des Hostels. Und schreibe einen Brief. An mich selbst. Weil ich an jeder Station festhalten will, was ich erlebt habe. Und mir dann diese Briefe von überall aus der Welt nach Hause schicke. Und hoffentlich für immer eine Erinnerung daran habe, was ich auf dieser Reise so alles erlebt habe.

Leute sind allerdings keine da. Ich sitze alleine im Garten und als es dunkel wird, entscheide ich, dass ich mir was zu essen suchen sollte. Dann eben alleine, wenn hier niemand ist. Vielleicht lerne ich ja irgendwo jemanden kennen. Ich gehe in mein Zimmer – ein Vierer-Dorm, das mir alleine gehört. Niemand sonst da. Ich packe aus, ziehe mich aus, gehe duschen, mache mich fertig, schaue in den Spiegel und denke: „ha, da konnte man ja doch was draus machen.“ Sieht nur blöderweise erst mal niemand außer mir. Ich stecke meine Schlüssel in die Tasche, checke noch mal alles und mache mich auf den Weg in einen einsamen Abend. Dann öffne ich die Tür, um hinaus zu treten und bekomme die Tür fast ins Gesicht. Und vor mir steht Aleks. Lächelt mich an, ich mache einen Schritt zurück und lasse sie eintreten.
Wir unterhalten uns. Fünf Minuten. Dann sage ich, dass ich gerade essen gehen wollte und frage, ob sie mitkommen möchte. Sie möchte. Und sagt, sie hatte schon Sorge, dass sie alleine essen müsse. Ich auch, sage ich, und wir freuen uns über die lustigen Zufälle, die das Schicksal manchmal für uns bereithält.
Bei meiner Anreise hatte mir die Rezeptionistin ein Restaurant besonders empfohlen und mir auch gleich einen Gutschein für zwei Gläser Wein mitgegeben. Als ob sie gewusst hätte, dass ich noch eine Begleitung finden würde. Wir schlendern dorthin und lassen es uns gut gehen. Ich weiß nicht mehr, was ich hatte. Aber es hatte mit Fleisch zu tun. Klar, ist ja auch Argentinien.
Wir unterhalten uns über alles Mögliche und es ist das perfekte erste Date. Wir erzählen uns aus dem Leben, machen Witze und Sprüche, stoßen häufig darauf an, dass wir uns gefunden haben, schauen uns fast ein bisschen verliebt an und haben einfach einen großartigen Abend.

Nach dem Essen schauen wir uns die Innenstadt an. Und suchen uns einen Laden, in dem wir noch ein Glas Wein zusammen trinken. Unsere Unterhaltung bleibt auf einem konstant angenehmen Level. Langsam beginne ich, daran zu denken, dass hier vielleicht doch mehr gehen könnte. Und sage mir im gleichen Zug, dass ich ruhig bleiben solle. Schließlich hätten wir noch die ganze Nacht und auch das Zimmer für uns. Was auch immer passieren sollte, es würde schon von alleine geschehen.
Wir gehen zurück zur Anlage, haben aber beide keine Lust, schon aufs Zimmer zu gehen. Dafür ist die Nacht zu lau und der Sternenhimmel zu schön. Ich überrede also die Rezeptionistin, uns noch zwei Dosen Bier zu geben (war das letzte, was wir noch kriegen konnten) und wir setzen uns an den Pool. Beziehungsweise legen uns auf zwei Liegen, die da rum stehen. Und unterhalten uns weiter, während wir die Sterne beobachten. Und reden über die Sterne. Was es da oben alles so gibt und wie weit das alles ist und was man halt so bespricht, wenn man in den Sternenhimmel schaut und Alkohol trinkt.
Als unser Bier alle ist, beschließen wir, dann doch langsam ins Bett zu gehen. Wir lachen und schäkern und ich bin mir sicher: sobald wir im Zimmer sind, ist es Zeit für den Move. Und dann werden wir eine tolle Nacht miteinander haben.
Im Zimmer erwarten uns zwei Typen, die gerade eingecheckt haben und noch dabei sind, ihre Koffer auszupacken. Als wir eintreten, fangen sie sofort eine Unterhaltung an. Der eine Typ merkt schon nach ganz wenigen Momenten, dass er die Situation gerade gehörig stört. Er versucht, seinem Kumpel irgendwie klar zu machen, dass sie vielleicht noch mal um den Block gehen sollten. Aber der hört nicht auf ihn und labert einfach weiter. Irgendwann wird es Typ 1 zu blöd und er verzieht sich. Typ 2 labert und labert und labert. Wir gehen beide nacheinander zu Bett (ich zuerst, weil mega angepisst), dann sie. Aber er hört nicht auf. Erst, als ich ihm zum dritten Mal sage, dass ich gerne schlafen würde, gibt er Ruhe. Die Situation, jegliche Magie, die der Moment, die der Abend hatte, ist zu diesem Zeitpunkt mehr als tot. Was bleibt, ist die Erinnerung. An die schönen Stunden zuvor. Der Abend hätte ein anderes Ende verdient gehabt. Nichtsdestotrotz wird er als einer der Höhepunkte dieser Reise in Erinnerung bleiben. Weil ich selten zuvor so unverhofft einen Menschen getroffen habe, mit dem ich sofort so eine Wellenlänge hatte. Auch, weil ich selten zuvor so schnell so hart abgebremst wurde. Und auch, weil mich dieser Abend nicht zum ersten und garantiert nicht zum letzten Mal lehrt, dass das Leben erstens immer anders kommt und zweitens als man denkt. Und dass sich nichts von selbst ergibt. Sondern, dass das Leben einem Gelegenheiten gibt. Immer und immer wieder. Große und kleine Gelegenheiten. Dass aber eine Gelegenheit nie einfach von sich aus zu etwas Großem wird. Sondern, dass wir zuschnappen müssen. Dass wir die Gelegenheit ergreifen und etwas daraus machen müssen.
Ich hatte viele Gelegenheiten an diesem Abend. Ich hätte Aleks küssen können. Nach dem Restaurant, im Bistro, spätestens am Pool. Überall aber habe ich gedacht, dass noch eine bessere Gelegenheit kommen würde, dass es besser passen würde. Und dann war die Gelegenheit vorbei.
Die Kunst zu leben besteht darin, Gelegenheiten zu erkennen und dann den Mut zu haben, die Gelegenheit auch zu nutzen. Viel zu oft ist die Möglichkeit viel zu schnell wieder dahin. Und kommt nicht mehr zurück. Mut ist ein wichtiger Schlüssel zum Glück.
Am nächsten Morgen frühstücken wir alle vier zusammen. Typ 2 ist immer noch in Redelaune, ich sage kein Wort. Erst als ich gehe, fällt mir ein Satz ein, den ich ihm zum Abschied stecke. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Aber irgendwas, dass es manchmal besser ist, zu hören und zu fühlen und dann auch einzusehen, dass man gerade am falschen Platz ist. Kapiert hat er es – glaube ich – nicht. Aber es ist auch egal. Es hätte ja eh nichts mehr geändert.
Ich verabschiede mich ziemlich unterkühlt von Aleks und das tut mir im Nachhinein leid. Es ging aber nicht anders. Ich war müde und immer noch angepisst und wollte nur noch weg. Und war froh, als ich endlich im Bus auf dem erneuten Weg zu den Wasserfällen saß. Diesmal von der anderen Seite.
Im Hostel hatte ich das volle Abenteuer-Ticket gebucht. Mit Bootsfahrt durch den Dschungel, Safari-Tour und Motorboot in die Wasserfälle hinein. Auf dem Papier klang das super. Bevor es so weit war, durfte ich mir aber erst mal selbst die Wasserfälle anschauen. Mein Tag war fast minutiös durchgetaktet. Es gab Zeiten, zu denen ich an bestimmten Orten sein müsste um am frühen Abend meinen Flieger nach Buenos Aires zu bekommen. Gut, dass ich rechtzeitig da war und gut, dass ich als erster in den ersten Zug einsteigen konnte, der mich direkt zu den Fällen bringen sollte. Man sagte mir, der Zug würde erst in 15 Minuten los fahren, aber das war kein Problem. Ich wäre immer noch pünktlich.

Nach 15 Minuten setzt sich der Zug in Bewegung. Ich bin einer von vielleicht zehn Fahrgästen. Nach ungefähr 500 Metern fährt er in die erste Station ein. Dort stehen ungefähr 200 Menschen an, die in den Zug einsteigen wollen. Ich bin erleichtert, dass ich schon sitze, denn da hätte ich keine Chance gehabt. Als wir anhalten, kommt eine Durchsage, die uns mitteilt, dass wir alle aussteigen und in den nächsten Zug einsteigen müssten. Ich gehe davon aus, dass die „Schaffner“ schon irgendwie dafür sorgen würden, dass wir dann zumindest als erste in den neuen Zug einsteigen könnten, aber denkste! Die schieben uns aus dem Bahnhof und bums! Stehen wir am Ende der Schlange. Keiner von uns kann Spanisch, keiner von denen vor uns lässt uns durch. Alle vor uns steigen in den Zug ein und ungefähr 10 Meter vor uns geht die Schranke runter. Zug voll. Der nächste kommt in 30 Minuten. Mein Zeitplan…hinfällig.
Ich schnappe mir einen der Schaffner und versuche in Erfahrung zu bringen, wie weit es wäre, wenn ich laufen würde. Ooh, das wäre viel zu weit, sagt er mir. Da wäre ich Stunden unterwegs. Ich schaue auf den Plan und kann das nicht so richtig glauben. Es ist mir auch egal. Ich habe Wut im Bauch und will mich bewegen und nicht 30 Minuten rumstehen. Ich frage, ob ich immer den Schienen folgen muss und er bejaht. Also mache ich mich auf den Weg.

Nach ungefähr 20 Minuten komme ich am Ziel an. Und entscheide, dass ich nie mehr einem Südamerikaner glauben werde, wenn er mir davon erzählt, wie anstrengend und unmöglich etwas sein soll.
Gestern stand ich auf der Seite der Wasserfälle, von der aus man ein wundervolles Panorama hat. Jetzt stehe ich genau auf der Klippe. Dort, wo das Wasser an der einen Stelle noch ganz ruhig ist und einen Meter weiter reißend in die Tiefe stürzt. Ein gigantisches Schauspiel. Ein wahnsinniges Gefühl.
Die Wege und Geländer führen hier oben genau über die Garganta del Diablo – den Teufelsschlund. Ich glaube, das sind die höchsten Fälle entlang der gesamten Wasserfälle. Vor allem aber wohl die mit dem meisten Wasserdurchfluss. Wenn man sich hier noch mal vor Augen führt, dass all dieses Wasser hier ungefährt so viel ist wie durch gerade mal zwei Turbinen des Itaipu durchfegt…Wahnsinn!
Es dauert eine knappe Stunde bis ich genug von den Wasserfällen habe. Passenderweise liege ich damit auch wieder genau im Zeitplan. Als Nächstes steht die Boots-Tour durch den Dschungel an. Die ist ungefähr so spannend wie die Kanal-Bootsfahrten, die man als Achtjähriger in Freizeitparks gemacht hat. Bei denen die Boote an Ketten geführt durch Märchenlandschaften gezogen wurden.
Die Farbkontraste zwischen erdigem Wasser und Landschaft sind zwar echt toll. Das bleiben aber die einzigen Höhepunkte.

Lächerlich wird es, als unser Bootskapitän aus großer Entfernung einen Kaiman entdeckt, wir mit dem Boot hinfahren und das Tier aus nächster Nähe beobachten können. Ich bin skeptisch. Die Kaimane, die ich in Brasilien gesehen habe, haben sich bei dieser Annäherung immer verkrochen. Der hier steht stumm und starr im Wasser. Und zwinkert nicht mal. Dass wir ihn zielstrebig aus großer Entfernung angesteuert haben, macht die Geschichte nicht glaubwürdiger. Ich bin überzeugt: der Kaiman ist ein Pappkamerad. Oder Plastik. Aber ich wäre mir nicht so sicher, dass ich im nächsten Moment ins Wasser springen würde.

Die anschließende Jeep-Tour durch die Flora und Fauna des Iguassu-Nationalparks ist noch lächerlicher. Wir sehen in zwei Stunden kein einziges wildlebendes Tier. Ausgenommen einer riesigen Spinne, die ihr Netz in fünf Metern Höhe über die Straße gespannt hat. Und ein paar Moskitos, die sich an den Uneingesprühten unter uns laben, während wir über eine Stunde auf unser Boot warten müssen.
Die Bootsfahrt an den Wasserfällen macht dafür wieder einiges wett. Sobald wir an Bord sind und abgelegt haben, bekommen wir wasserdichte Taschen für unsere Wertsachen. Wir bekommen gezeigt, wie wir die Taschen anwenden und verschließen und verstauen alle unser Zeug darin. Dann geht’s los. Wir fahren zunächst recht nah an einigen Wasserfällen entlang. Und dann steuern wir in eine Bucht – direkt auf einen riesigen Wasserfall zu. Wir fahren mit fast vollem Schub und dennoch sehr langsam an einen der Fälle heran. Und bleiben ungefähr einen Meter davor stehen. Es ist unglaublich majestätisch, so nah an diesen Wassermassen dran zu sein. Die Gischt schlägt ins Gesicht und wir sind innerhalb von Sekunden alle vollkommen durchnässt.

Dann gibt das Boot plötzlich Vollgas und wir heizen auf den Wasserfall zu. In der nächsten Sekunde sind wir genau drunter. Wenn man nach oben schaut, sieht man, wie riesige Tropfen auf einen runter prasseln. So viele und so stark, dass es mir fast die Sonnenbrille von den Augen haut. Ich schaue wieder nach vorne, um mich zu schützen, muss aber im nächsten Moment wieder nach oben gucken, weil es ein so geiles Gefühl ist und ein so unglaublich seltenes Bild. Endorphine jagen durch meinen Körper und ich fühle mich schlagartig wahnsinnig glücklich. Als das Boot vom Wasserdruck langsam zurückgedrängt wird und nicht mehr dagegen ankämpfen kann, lachen wir alle. Vor Glück. Man spürt richtig, wie die Menschen angefüllt sind mit positiver Energie. Das ganze Schauspiel wiederholen wir noch drei Mal. Dann geht’s zurück. Und auf dem Rückweg sehen wir, wie das nächste Boot in die Fälle reinheizt. Und freuen uns ein kleines bisschen, weil wir wissen, was für ein tolles Gefühl, diese Menschen jetzt erwartet.

Auf dem Weg zurück zur Anlegestelle kommt uns ein Rafting-Boot entgegen. Dasselbe, auf dem ich gestern unterwegs war. Aus heutiger Sicht: Junge, war das lame!

Von den Wasserfällen geht’s direkt zum Mini-Flughafen in Puerto Iguassu und ein paar Stunden später lande ich in Buenos Aires. Beim nächsten großen Abenteuer für mich. Und dem letzten Abenteuer, das Fred und ich gemeinsam erleben.
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