
Wer sich Anfang März in den brasilianischen Dschungel im Pantanal aufmacht, der muss mit vielen Tieren rechnen: Krokodilen, Capybaras, Papageien, Ottern und Piranhas. Alles gesehen und genossen. Weniger genossen: das Zusammentreffen mit der am häufigsten angetroffenen Tierart: Moskitos. Mit der kann man aber rechnen. Der Grund, warum ich hier überhaupt hinfahren konnte: Esel! Was ich mitgenommen habe: einen Elefanten!
Von Krokodilen und Eseln und Elefanten – jetzt hier lesen!
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Am 1. März diesen Jahres war es endlich soweit. Ich durfte, ich konnte, ich wollte den Flieger besteigen und auf die wahrscheinlich größte Reise meines Lebens gehen. Zu verdanken hatte ich das den Handlungen einiger Menschen, denen ich mich nicht zum Dank verpflichtet fühle. Ohne zu viel zu verraten: man versuchte, mich über den Tisch zu ziehen. Stellte sich dabei aber wie ein Esel an und wurde letztlich von mir über eben jenen gezogen. Was dazu führte, dass ich plötzlich mit vier Monaten Freizeit und einem Sack voll Geld da stand und sofort wusste: das kommt nie wieder! Raus hier! Ab in die Welt!
Es würde die erste große Reise sein, die ich ganz alleine angehen würde. Als ich 2005 für drei Monate durch Europa reiste, hatte ich meinen besten Freund dabei. Und als ich vor zwei Jahren für ein paar Wochen durch Thailand und Kambodscha marschierte, war ich ebenfalls nicht allein. Denn an meiner Seite hatte ich mit Andi einen guten Freund und mit Fred einen Begleiter, den ich nie mehr alleine lassen wollte. Inspiriert vom Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“ hatte ich mir einen Reisekompagnon zugelegt, den ich vor all den tollen Dingen fotografieren wollte, die ich so auf meinen Reisen so sehen werde. Und mein Gedanke war, dass ich irgendwann meinen Kindern davon erzähle. Und dass sie den kleinen Elefanten in die Hand nehmen können. Und durch die Bilder und durch ihn erleben, wie groß und wie wundervoll die Welt ist.
Es war klar, dass ich irgendeinen Reisekompagnon mitnehmen werde. Gefunden habe ich ihn an einem der unromantischsten Orte überhaupt – bei IKEA.

Dort nämlich schaute er mich aus einer großen Metallschütte heraus an und ich war sofort verliebt. Man konnte ihn aber nur im Gepäck mit seinem Vater mitnehmen. Das sollte nicht weiter stören. Der Vater konnte einfach in meinem Schrank sitzen und auf seinen Sohn warten. Und wenn der Kleine dann zurück war, dann setzte ich ihn daneben und er konnte seinem Vater erzählen, was er alles erlebt hatte. Die Vorstellung gefiel mir und die beiden kamen mit. Die Namen waren auch recht schnell klar. Ohne jeden Hintergrund. Der Kleine sollte „Fred“ heißen. Mit langem e. Und der große war Franz Ferdinand.
Fred hatte seinem Vater in den letzten zwei Jahren ganz schön viel zu erzählen. Er hatte nämlich jede Menge zusammen mit Andi und mir erlebt. Ein paar Ausschnitte davon gibt es unten in der Galerie.
Aber viel spannender für Fred war, dass es jetzt auf die nächste Reise gehen würde. Auf diese riesige Reise. Einmal um die Welt. Und davor verabschiedete er sich von Franz Ferdinand. Denn auch der würde seinen Wohnort wechseln. Er zog pünktlich mit der Abreise von Fred zu meinem damals einjährigen Neffen. Und wenn er wieder kommen würde – das versprach er ganz fest – würde er meinem Neffen und seinem Franz-Ferdinand-Vater alles erzählen, was er so erlebt hatte.
Bei dieser Reise also war Fred mein einziger Begleiter. Ansonsten würde ich alles hinter mir lassen. Und lustigerweise wurde mir das erst kurz vor dem Abflug so richtig bewusst. Sechs Wochen zuvor hatte ich mich mit meinem ehemaligen Arbeitgeber auf einen Auflösungsvertrag geeinigt. Und von da an stand ich im Dauerstress. Neues Arbeitsverhältnis ab 1. Juli fixieren! Reiseziele festlegen! Flüge buchen! Wohnung untervermieten! Dass dabei nicht alles zu 100% perfekt lief, ist wohl vollkommen klar. Das wird sich auch später in der einen oder anderen Geschichte noch rächen. Dass ich auf der anderen Seite nicht alles komplett durchplanen wollte, ist wohl auch klar. Ein bisschen Freiraum muss auf so einer Reise sein. Sonst dreht man wahrscheinlich durch.
Und dann kam dieser Moment. Dieser 1. März. An dem ich tagsüber noch bei Globetrotter war und die letzten Einkäufe getätigt hatte. Einen Rucksack und einen Schlafsack. Und dann packte ich und dann brachte ich die letzten Kartons in den Keller und dann übergab ich meinen Schlüssel an meinen Untermieter und plötzlich saß ich am Flughafen. Und nachdem ich eingecheckt hatte, stellte ich fest, dass es jetzt wirklich losgeht. Und dass ich plötzlich ganz allein war. Dass Fred über die nächsten drei Monate tatsächlich mein einziger Begleiter sein würde. Dass ich meine Freunde, meine Eltern, alle vertrauten Dinge für drei Monate nicht sehen würde. Dass es kein Zurück geben würde – auch wenn es mir nicht gefällt. Denn meine Wohnung war besetzt. In diesem Moment hatte ich Angst. Und zwar richtig. Ich saß am Gate und starrte vor mich hin. War sprachlos. Und sagte mir, dass es unsinnig ist, sich jetzt so zu fühlen. Dass ich vor der größten Freiheit meines Lebens stehe. Dass ich wahnsinnig tolle Sachen sehen und erleben werde. Und dass ich mich darauf gefälligst freuen sollte.
Trotzdem dauerte es bis zum Abflug, bis ich mich vernünftig gesammelt hatte. Aber als meine Maschine ihre Räder von der Startbahn in Hamburg hob, musste ich grinsen. Und konnte bis Sao Paulo fast nicht mehr aufhören. Jetzt ging es wirklich los. Und plötzlich war ich aufgeregt wie ein Kleinkind. Neugierig auf alles, was um mich herum passierte. Wollte alles sehen, alles entdecken, alles aufnehmen und fühlen. Und freute mich auf jede noch so kleine Sensation, die sich mir in den Weg stellte. Und ich schwor mir, dieses Gefühl durch die ganze Reise zu behalten. Zu fühlen und zu erleben mit der Neugier und Begeisterungsfähigkeit eines Kleinkindes. Und wann immer ich mich schlecht fühlen sollte, würde ich Fred anschauen und mich daran erinnern, dass es die kleinen Dinge des Lebens sind, die einen so glücklich machen können. Wie mein kleiner Neffe zuhause, dem ich eines Tages von all diesen Dingen erzählen würde. Zusammen mit Fred. Ein toller Gedanke!

Der erste Reisetag soll mich direkt zu meinem ersten Ziel bringen: zur Wildnis im Pantanal. Im Landesinneren von Brasilien. Zu diesem Zweck lande ich am Morgen in Sao Paolo. Und habe für den Abend bereits meinen Weiterflug nach Campo Grande gebucht. Mir bleibt also ein voller Tag, um mir diese riesige Metropole anzuschauen. Vollkommen klar, dass man sie dabei nur anreißen können wird. Und mit nicht viel mehr Erwartung lande ich dann auch dort. Schnell das Gepäck direkt für den Abend eingecheckt und ab in die Stadt.
Ich fahre einfach in die Mitte der Stadt und suche dort eine Touristen-Information. Das geht erstaunlich schnell (wahrscheinlich auch, weil ich dank LonelyPlanet weiß, wo ich hin muss). Dort lasse ich mich mit den Infos versorgen, was ich mir alles anschauen soll. Auf jeden Fall wird mir das Fußball-Museum ans Herz gelegt. Natürlich. Als Riesen-Fußball-Fan muss das natürlich mein erstes Ziel im Land des Fußballs sein. Also wieso nicht. Ich soll einfach den Bus an der Hauptstraße unten nehmen. Sie schreibt mir die Nummer des Busses und sein Fahrziel auf. Den Rest würde ich dann schon finden.
Es dauert leider etwas, bis ich die Haltestelle identifizieren kann. Das schließlich funktioniert auch nur, indem ich die Straße hoch und runter laufe und irgendwann feststelle, dass sich ein paar Menschen an einem Punkt sammeln. Wieso sie das tun, kann ich nicht ausmachen. Aber ich vermute, dass sie ebenfalls auf den Bus warten.
Als ich sie in meinem radebrechenden Spanisch frage, ob das die Haltestelle sei, verneinen sie. Aber eine alte Frau führt mich nach einer endlos dauernden Unterhaltung zur Haltestelle. Woran sie sehen würde, dass dies die Haltestelle sei, kann sie mir nicht sagen. Und ich habe auch nicht die leiseste Ahnung. Aber sie hat Recht. Der Bus kommt und ich finde meinen Weg zum Fußball-Museum.

Das Museum selbst: ein netter Zeitvertreib. Mit viel Historischem aus dem brasilianischen Fußball. Aber definitiv nichts, worüber man sich auf dem Sterbebett ärgern muss, falls man es verpasst haben sollte.
Weitaus interessanter sind die jungen Brasilianer, die mir auffallen, als ich das Museum verlasse. Die den Parkplatz nutzen, um ihre ferngesteuerten Renner über die Straße rasen zu lassen. Und die erreichen dabei eine Geschwindigkeit, die echten Rennern in nichts nach steht. Ich setze mich für einen Moment an den Straßenrand und beobachte sie beim Spielen. Und überlege, ob ich mal fragen soll, ob sie Fred für eine Runde mitnehmen. Entscheide mich aber dann doch dagegen. Wahrscheinlich, weil ich meine Spanisch-Qualitäten realistisch einschätze und mir nicht sicher bin, ob ich rüber bringen kann, was ich meine. Und diese Jungs sehen auch nicht so aus, als sollte man ihnen irgendeinen falschen Eindruck vermitteln.
Ich laufe also ein bisschen durch Sao Paulo und schaue mir die Stadt ein. Was mir auffällt: hohe Mauern und Elektrozäune. Das bestätigt den Eindruck, dass sich die Reichen hier noch mehr absichern als anderswo. Und dass es eine sichtbare und spürbare Abgrenzung gibt. Die Mauern sind mit Graffiti besprüht. Ein weiteres Zeichen dafür, dass hier verschiedene Welten aufeinander prallen. Die durch Steine und Elektrizität auseinander gehalten werden.

Nach einem gefühlten Fünf-Kilometer-Marsch in der Mittagssonne von Sao Paulo komme ich an meinem nächsten Ziel an: der Avenida Paulista. Dort entdecke ich etwas, was mir gefällt. Ein Fahrstreifen dieser belebten Verkehrsader ist gesperrt. Um Leute vom Radfahren zu überzeugen. An einem Ende der Straße werden kostenlos Fahrräder ausgegeben, um den Leuten zu zeigen, wie viel Spaß es machen kann, sich mal auf zwei Rädern zu bewegen. Und eben diesen exklusiven Fahrstreifen in der Mitte der Paulista zu nutzen. Zwar nur am Sonntag. Aber immerhin.

Einen Kilometer die Straße runter fällt mir eine Menschenansammlung auf. Und in ihrer Mitte der Grund dafür, wieso sie alle stehen bleiben. Ein Elvis-Imitator, der das Ganze echt ziemlich gut macht. Realistisch aussieht. Eine Musikbox dabei hat, die die Hintergrund-Mucke liefert und ein Mikro über das er seine Stimme drauf legt. Und tanzt wie der King höchstpersönlich. Auf einem Las-Vegas-Quadratmuster-Teppich.

Aber vor allem zwischen den Leuten. Die begeistert sind. Und fast austicken, als er anfängt, vorbei fahrenden Autos in die Fenster zu singen. Und sich nicht mehr einkriegen, als er mit dem Mikro in der Hand in den Bus einsteigt und den Fahrer auf Knien antanzt.

Mein Weg führt mich weiter zur Catedral de Sé. Eine beeindruckende Kirche, ein beeindruckender Platz. Aber am Beeindruckendsten: die Detail-Treue der Brasilianer, die hier selbst ihre Ampelmännchen passend gestaltet haben.

Als ich um die Catedral herum laufe, um sie von allen Seiten zu betrachten, fällt mir noch etwas Weiteres auf. Direkt auf der anderen Straßenseite stehen zahlreiche Prostituierte. Am Nachmittag. Nur eine Straße entfernt von der Kathedrale. Im katholischen Brasilien. So krass habe ich Bigotterie bisher noch nicht erlebt. Sie aber natürlich aus Respekt nicht im Bild festgehalten.
Mein Tag in Sao Paulo neigt sich seinem Ende zu, aber an Schlaf ist noch nicht zu denken. Vor mir liegen drei Flüge quer durchs Land. Erst von Sao Paulo nach Cuiaba. Von dort dann nach Brasilia und von dort wiederum nach Campo Grande. Man hätte das Ganze auch direkt machen können; das wäre aber dreimal so teuer gewesen. Also nehme ich mehr Zeit und mehr Starts und Landungen in Kauf und zahle weniger. Erlebe dabei grandiose Gewitterwolken, die sich neben unserem Flugzeug auftürmen und ein Gewitter beim Anflug auf Brasilia, das mir Schauer der Faszination und der Angst gleichzeitig über den Rücken jagt.

Dann beim Abflug aus Brasilia eine Laserpointer-Attacke aus den Häusern unter uns. Die aber glücklicherweise folgenlos bleibt. Bis auf ein kurzzeitig verstörtes Gefühl in meinem durchs Fenster getroffenen Auge. Und schließlich die Ankunft in Campo Grande am späten Abend, wo ich direkt von meinem Hostel-Menschen abgeholt werde. Im Shuttle zum Hostel treffe ich auf zwei andere Deutsche, die dasselbe Ziel haben: das Pantanal erkunden. Tiere sehen!
Unser Hostel-Typ im Hostel Campo Grande – Rodrigo – lädt uns noch in der Nacht ein, ein paar Bier mit ihm zu trinken. Man merkt ihm sofort an, dass er ein Verkäufer ist. Die Art, wie er fragt, aber trotzdem nichts wissen will. Die Witze, bei denen man sofort merkt, dass man der 5.746te ist, der sie abbekommt. Und die Professionalität, die ihn immer wieder geschickt ein paar Vorzüge seiner Touren einstreuen lässt. Trotzdem nicht unsympathisch.
Das Hostel hat im Web sehr gemischte Bewertungen bekommen – mein persönlicher Eindruck ist in Ordnung. Von Bettwanzen bleibe ich – nach ausführlicher Kontrolle meiner Schlafgelegenheit – glücklicherweise verschont. Am nächsten Morgen verhandle ich mit Rodrigo über eine Tour und einen anschließenden Transport nach Foz de Iguacu. Er organisiert alles und rechnet einen Preis aus. Ich vergleiche den Preis anschließend im Internet und stelle fest, dass Rodrigos Angebot durchaus fair ist.
Beim Lesen der Bewertungen auf Hostelworld stellt man schnell fest, dass die Touren von Rodrigo oft enttäuschend waren. Ich verlange daher bei der Verhandlung, dass ich nur die Hälfte anzahle und den Rest erst am Ende abdrücke, wenn alles gut war. Er stimmt anstandslos zu. Und so kann es dann ein paar Stunden später losgehen. Die beiden anderen Deutschen schließen sich kurzerhand an.
Wir fahren mit einem VW Transporter (oder irgendeiner anderen Marke ähnlicher Bauweise…) erstmal ein paar Stunden in Richtung Landesinnere. Nach einer gefühlten Ewigkeit halten wir auf einem kleinen Parkplatz. Dort kommen nach kurzer Zeit ein paar Jeeps an. Von diesen klettern andere Reisende runter, mit denen wir uns kurz unterhalten. Danach werden die mit den Transportern zurück in die Zivilisation gebracht und wir auf die Jeeps verfrachtet. Jetzt geht’s also richtig los.

Die Reise ist faszinierend, weil die Landschaft so neu ist. Ansonsten aber eigentlich furchtbar langweilig, denn es geht über zwei Stunden einfach nur geradeaus. Wirklich. Nur geradeaus. Keine Kurve. Nichts. Einfach! Nur! Geradeaus!
Spannend wird es immer dann, wenn eine Brücke kommt (insgesamt gab es – glaube ich – 127 Brücken). Denn dann muss der Jeep bremsen und die Brücke langsam passieren. Und je tiefer wir in die „Wildnis“ fahren, desto mehr stellen wir fest, was uns hier neben Krokodilen, großen Nagetieren und außergewöhnlichen Vögeln am Ehesten erwarten wird: Moskitos!
So lange unser Jeep eine vernünftige Geschwindigkeit beibehält, sind die kleinen Nervtöter überhaupt kein Problem. Aber sobald er für eine Brücke bremsen muss und sich mit Schrittgeschwindigkeit drüber bewegt, bevölkern die Biester uns in Scharen. Und mit jeder Brücke, die weiter drinnen liegt, werden es mehr. Ganze Wolken. Die Berichte, die ich vorher über Moskitos im Pantanal gelesen hatte, waren nicht übertrieben. Solche Mengen habe ich noch nie erlebt.

Es ist also an der Zeit für mein Wundermittel: NOBITE. Die brutalste chemische Keule gegen Stechmücken, die es gibt. Sagt man so. Soll angeblich für das US-Militär in Vietnam entwickelt worden sein. Hat auf jeden Fall 50% DEET und damit mehr als zehnmal so viel wie viele andere Mittel. Ich sprühe mich also damit ein und die Wirkung ist phänomenal. Moskitos fliegen auf mich zu und drehen im Anflug wieder um. Hat sich die Investition also gelohnt.
Und dann fragen mich meine deutschen Gegenüber, was das sei, was ich mir da gerade aufgesprüht habe. Ich erzähle ihnen von meinem Wunderwissen über das Wundermittel und sie staunen. Ich frage, was sie denn dabei hätten und sie antworten: „oh, wir haben so was gar nicht dabei.“
Auf meinem Gesicht muss sich in diesem Moment ein riesiges „WTF!?!?“ ausgebreitet haben. Fürs erste allerdings nehmen sie es sportlich. Nach der zehnten Brücke und damit auch der zehnten Moskito-Schwarm-Attacke entscheiden sie sich, einfach ihre Pullover anzuziehen und die Viecher damit auf Distanz zu halten. Eine gute Idee, solange man in einem offenen Jeep sitzt und der Fahrtwind schön kühlend wirkt. Aber was machen die beiden morgen, wenn wir bei 35 Grad im Schatten durch den Dschungel laufen?

Kurz vor der Ankunft in unserer Unterkunft sammeln wir noch drei Mädels auf. Zwei Deutsche und eine Holländerin. Die mir jetzt schon leid tut. Denn selbst wenn fünf Deutsche alle möglichen guten Vorsätze haben, wird es sicher nicht ausbleiben, dass wir uns auf Deutsch unterhalten. Die beiden Mädels sind toll! Gut vorbereitet (ebenfalls mit NOBITE), gebildet, interessiert – und gut sehen sie auch noch aus. Ein Lichtblick! Das werden also doch sehr angenehme Tage hier im Pantanal!

In den nächsten Tagen unternehmen wir eine Menge Touren. Mal zu Fuß, mal mit dem Boot. Mal am Tag, mal in der Nacht. Die Augen von Krokodilen leuchten orange bis gelb in der Nacht, wenn man sie mit einer Taschenlampe anstrahlt. Auch aus der Entfernung. So haben wir einige Kaiman-Nester ausmachen können. Das war mitunter ganz schön gruslig. Was an der Verteidigungs-Strategie von Kaimanen bei Fluchtreflexen liegt. Dann nämlich verschwinden sie vom Land einfach ins Wasser. Da kann man sie nämlich nicht sehen (glauben sie). Wenn wir uns mit dem Boot also einem Kaiman an Land nähern, dann funktioniert das eine ganze Weile gut. Und irgendwann – plötzlich! – rennt der Kaiman dann ins Wasser (auf uns zu!), taucht unter das Boot, schwimmt drunter durch und taucht irgendwo hinter uns wieder auf. Also nur seine Augen. Die uns dann von hinten orange-gelb anstrahlen. Die ersten paar Mal ist das wirklich creepy! Vor allem nachts.

Auf unseren Touren über die Tage verteilt sehen wir noch eine Menge verschiedener Tiere. Das größte Nagetier der Welt beispielsweise: das (oder den?) Capybara. Der aussieht, wie ein zu groß geratenes Meerschweinchen, dem man ungünstigerweise das Hinterteil abgetrennt hat. Irgendwie das unförmigste und daher auch tollpatschigste Tier, das ich bisher gesehen habe. Süß sind sie trotzdem irgendwie. Oder vielleicht auch genau deswegen.

Toll sind auch jede Menge Vögel, die uns so über den Weg fliegen. Behalten kann ich leider keinen einzigen Namen. Was auch daran liegt, dass unser Wildnis-Führer (Nico) sich eher wortkarg gibt. Wir schippern für eine halbe Stunde durch die Gegend, ohne dass er etwas sagt. Dann steuern wir langsam auf einen Vogel zu, er zeigt mit dem Finger drauf, sagt seinen Namen (also den des Vogels) und schweigt dann wieder. Bis zum nächsten Vogel. Woran das liegt, werde ich später erfahren.

Erstmal erfreue ich mich an den endlosen Panoramen. An Wolkenformationen und Horizonten, die ich in dieser Größe bisher nirgendwo gesehen habe.

Auf einer Boots-Tour bringt uns Nico bei, wie man Piranhas fängt. Auch hierbei gibt er sich so wortkarg wie möglich. Irgendwann stoppt er das Boot und sagt „Now we fish piranha“. Dann holt er einen Eimer mit Aalen (oder ähnlichem) hoch, nimmt einen raus, zerschneidet ihn in Stücke und legt die vor sich hin. Dann gibt er jedem von uns eine provisorische Angel. Und ein Stück Köderfisch (eben Aal oder so – ich nenne ihn jetzt einfach Köderfisch). Dann zeigt er uns wie man den Köderfisch mit ein paar Handgriffen auf den Haken sticht und ab dafür.
Der eine der beiden Insektenschutzmittel-Helden hat offensichtlich Probleme damit, den Fisch auf seinen Haken zu bekommen. Und daraus entspinnt sich das bis dahin längste Gespräch mit Nico, das ich so erleben darf.
Typ: Can you help me with the fish?
Nico: Why?
Typ: I cannot put it on.
Nico: Why? Because you are not a man?
Daraufhin muss Nico kurz lachen. Es ist ein Lachen, das eher einem Hickser gleicht. Ganz kurz und fast verschämt und eigentlich nicht zu bemerken und sofort hat er wieder seine ausdruckslose, weltferne Miene aufgelegt. Aber in diesem kurzen Moment, in dem er über seinen eigenen, stumpfen, billigen, blöden Diss lachen muss und wenn es nur für eine halbe Sekunde ist, schließe ich ihn in mein Herz. „Der kann ja cool tun, wie er will – der ist genau so doof wie wir alle manchmal“, denke ich mir so bei mir. Und werde Recht behalten.

Es dauert nicht lange, bis wir die ersten Piranhas fangen. Nico nimmt sie sofort in Gewahrsam und schlägt sie hart auf die Planke im Boot. Dann zeigt er uns den vermeintlich toten Fisch. Und erklärt, dass er nicht tot sei („piranha not dead. Look!“). Dann schiebt er ihm einen dicken Stiel Seerose ins Maul, woraufhin der vermeintlich tote Fisch zubeißt und ein dickes Stück des Stiels abzwickt. Das hätte gut und gerne unser Finger sein können.
Nico zeigt uns jetzt, wie man den Piranha sicher tötet. Ich erkläre das jetzt nicht. Es ist sehr ekelhaft. Und wird im Ansatz durch das Bild unten dargestellt.

Am Abend – es ist der letzte Abend im Pantanal – sitze ich noch ein wenig in der Unterkunft und denke über die vergangenen Tage nach. Die anderen sind schon ins Bett gegangen. Auf einmal kommt Nico an meinen Tisch, stellt zwei Dosen Bier ab und schaut mich an. In meinem Kopf entsteht ein großes Fragezeichen, aber mein Gesicht freut sich und sagt Danke.
Nico sagt: „I think you are the only smart guy in this group. Wanna drink with me?“
Und dann erzählen wir uns voneinander. Ich. Und der Mann, der uns drei Tage durch den Dschungel geführt hat und dabei weniger gesagt hat als jetzt in der Minute, in der er mich auf ein Bier einlädt. Er erzählt von der Holländerin, die ihn vom ersten Moment an damit genervt hat, dass sie einen Tag früher abreisen möchte. Und er ihr erklärt hat, dass er gerne versuchen kann, Kontakt zum Tour-Vermittler herzustellen, er daran aber nichts ändern könne, weil er nur der Führer sei und einfach nur vom Vermittler gebucht würde. Sie das aber nicht akzeptiert habe und ihn recht schnell recht übel beleidigt habe. Mein Beileid dafür, dass wir in ihrer Gegenwart nicht immer Englisch untereinander gesprochen haben, verschwindet.
Und er erzählt von Leuten, die überhöhte Erwartungen an die Touren hätten. Jeder wolle den Jaguar sehen. Jeder komme hierher mit dem Ziel, dass er den Jaguar sehen müsse. Und dann wären sie so blöd und würden nicht mal Insektenschutzmittel mitbringen. Müssten sich mit Ästen den ganzen Tag auf dem Körper rumschlagen, damit die Moskitos sich nicht festsetzen. Und würden sich dann wundern, wenn der Jaguar nicht mal eben vorbei schauen würde. Weil die Viecher eben empfindlich auf Lärm reagieren. Und dann fasste er es genereller und sagte, dass die Leute immer riesige Erwartungen hätten, diese Erwartungen aber durch ihr eigenes Verhalten kaputt machten. Weil sie nicht nachdenken. Und überhaupt verschließen die Meisten die Augen vor der ganzen restlichen Schönheit, die diese Gegend mit sich bringt.
Ich höre fasziniert zu, stelle manchmal Nachfragen und lasse ihn ansonsten einfach reden.
Alle seien sie getrieben davon, etwas Besonderes zu erleben. Alle hätten sie ein Ziel und das müssten sie abhaken und dann könnten sie weiter rennen zum nächsten Ziel, das sie abhaken können. Und weil sie so beschäftigt damit seien, Dinge abzuhaken, haben sie überhaupt keine Zeit und kein Gefühl dafür, die wirklich schönen Dinge zu entdecken. Einfach mal stehen zu bleiben, an einer Blume zu riechen und das toll zu finden.
Er selbst sei genauso gewesen. Genauso getrieben. Damals als er ein Banker in Sao Paulo gewesen war. Als er immer nur den nächsten Profit wollte, den nächsten Bonus, die nächste schöne Frau im nächsten besten Club. Und irgendwann hat er dann umgedacht, sagt er. Und hat angefangen zu lesen. Internationale Literatur. Viel deutsche Literatur. Viel Hermann Hesse. Er liebt Hermann Hesse, sagt er. „Siddharta changed my life“, sagt er. Und in diesem Moment bin ich peinlich berührt. Und gerührt gleichzeitig. Dieser Typ, der hier vor mir sitzt. Dieser Typ, der vor ein paar Stunden mit einem riesigen Dolch ein paar Piranhas den Garaus gemacht hat, der sich mit diesem Teil durch die Bäume schlägt, bei 80 Sachen auf der Motorhaube eines fahrenden Jeeps liegt und der den ganzen Tag wirkt, wie wenn er gerade erst aus dem Urwald erwachsen wäre und sprechen gelernt hätte – dieser Typ hat wahrscheinlich mehr deutsche Literatur gelesen als ich.
„Siddharta changed my life“ (Nico)
Es ist irgendwie ein cooles und peinliches Gefühl zugleich. Ich entscheide mich dafür, fasziniert zu sein, notiere aber in meinem Kopf: „Siddharta lesen!“. Dann höre ich ihn sagen, dass er sich nach dieser Geschichte entschieden hat, in den Dschungel zu gehen. Und seinen Frieden hier zu finden. Es sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen.
Dann steige ich mit ihm in ein sehr langes Gespräch über das ein, was im Leben wirklich wichtig ist. Am Ende haben wir viele Dosen Bier geleert. Und nehmen uns zum Abschied in den Arm. Und ich bin baff. Baff, wie tief, wie vielfältig dieser Mensch ist. Und wie gut er das verheimlicht hat. Weil er keine Lust darauf hatte, sich mit den anderen auseinander zu setzen. Weil er für sich vor langer Zeit entschieden hat, dass er sich nur noch ganz selektiv öffnet. Und der Großteil seiner Öffnung der Natur gilt und der kleine restliche Teil nur ein paar wenigen ausgewählten Menschen. Ich bin sehr stolz, dass ich einer davon sein durfte.

Am nächsten Tag – dem Tag meines Abschieds – ist Nico wieder genauso, wie er vorher war. Still. In sich gekehrt. Spricht nur, wenn er absolut muss, weil er uns irgendwo ein Tier zeigt. Da es aber der letzte Tag ist, gibt es nicht so viel zu zeigen. Also hält er Abstand. Und spricht nicht. Ab und an, wenn wir aneinander vorbei laufen, schaut er mich an und scheint für einen kurzen Moment zu lächeln. Wie wenn wir ein Geheimnis teilen würden. Wie wenn wir einen verbotene Nacht verbracht hätten, von der nur wir beide wissen. Es ist skurril. Aber lustig. Und definitiv irgendwie angenehm.
Auf der Rückfahrt machen wir noch mal alle Fotos voneinander. Jeder gibt einmal seinen Fotoapparat rum und lässt die anderen Fotos von sich und den anderen machen. Erinnerungen festhalten.
Als ich meinen Fotoapparat wieder bekomme, sehe ich, dass Gretas Freundin (die ich wirklich toll fand), auf meinem Erinnerungsfoto ein blödes Gesicht gemacht hat. Sie merkt an, dass wir das ja noch mal machen könnten. Und ich sage nein. So wird sie mir jetzt in Erinnerung bleiben. Selbst schuld.

Ein paar Minuten später essen wir das letzte Mal miteinander, dann verabschieden wir uns. Aus irgendeinem Grund haben wir uns schon vorher entschieden, keine Kontaktdaten auszutauschen. Wieso, weiß ich nicht mehr. Es ist auf jeden Fall ein komisches Gefühl, sich von Menschen zu verabschieden, wenn man weiß, dass man sie wahrscheinlich nie mehr wiedersehen wird. Dann geht meine Reise weiter. Über ein paar Stunden im Transporter (mit einem sehr übelriechenden, aber redseligen Brasilianer) und danach ein paar Stunden im Reisebus. Bis ich schließlich in Foz de Iguacu ankomme. Und dort die nächsten Abenteuer erlebe.
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