
Wer dachte, dass in China alles nur Maßregelung und Kontrolle ist, der wundert sich in dieser Geschichte genau so sehr wie ich. Es ist eine Geschichte über Freiheit und besondere Momente. Die manchmal nur wahr werden, wenn viele Faktoren zusammen spielen. Und man in sich selbst ruht.
Bis Ihr dahin kommt, müsst Ihr aber auch ein wenig in Euch selbst ruhen. Denn erstmal erzähle ich, wie ich überhaupt dahin gekommen bin.
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Shanghai hatte ich im Jahr 2009 schon einmal im Rahmen einer Summer School meiner damaligen Uni besucht. Zwei ganze Wochen waren wir dort und haben uns ein ganz anständiges Bild von der Stadt verschafft. Das klingt vermessen im Angesicht einer 23-Millionen-Einwohner-Metropole, scheint von der Wahrheit aber gar nicht so weit entfernt zu sein. Denn bei meinem zweiten Besuch zog es mich lustigerweise genau an die Orte, die ich beim ersten Mal schon besucht hatte. Manchmal wollte ich das, meistens nicht. Dennoch war es schön. Aber das ist eine andere Geschichte.
Der Grund, weswegen ich Shanghai in meine Reiseplanung aufgenommen habe, war allerdings ein ganz anderer. Ich wollte ein Formel1-Rennen sehen. Und die beiden einzigen Formel1-Rennen, die zu meiner groben Route gepasst haben, waren Ende März in Malaysia oder eben Shanghai Ende April. Für das Rennen in Malaysia hätte ich Neuseeland opfern müssen und Shanghai schien sich als guter Ausgangspunkt für die Weiterreise nach Tibet zu eignen. Also fiel die Wahl nicht schwer.
Urigerweise hatte ich ja die Hoffnung, dass Tickets für einen F1-GrandPrix am anderen Ende der Welt eher günstiger sein werden als in unseren Gefilden. War aber nicht so. Da es mir bei dieser Reise ja aufgrund glücklicher Umstände nicht aufs Geld ankommen sollte, wollte ich dennoch nicht sparsam sein. Und kaufte mir so Tickets für die Haupttribüne. Direkt am Boxenausgang auf der Start-Ziel-Gerade. Mit einem phänomenalen Überblick, der ja so typisch ist für diese neuen Rennstrecken. Von meinem Platz aus konnte ich ungefähr die Hälfte der ganzen Strecke überblicken. Ob das nun tatasächlich 350 EUR wert ist – darüber kann man streiten. Regelmäßig werde ich das nicht machen. Aber für dieses eine Mal war das schon toll.

Sportlich gab das Rennen nicht wirklich viel her. Immerhin hat es samstags beim Qualifying geregnet – so habe ich auch mal miterlebt, wie das aussieht, wenn die Autos einen Gischtschleier hinter sich her ziehen. Faszinierend ist und bleibt, live zu erleben, wie schnell diese Autos beschleunigen. Das wird im Fernsehen nie so wirklich klar. Wenn man aber daneben steht, einen fixen Standpunkt hat und diese Teile an einem vorüber rauschen – dann wird auch irgendwie klar, wieso das so ein unglaublich anspruchsvoller Sport ist.
Während der Hinfahrt zum Qualifying am Samstag mache ich eine nette Begegnung. In der U-Bahn lerne ich ein junges, deutsches Mädchen kennen, das es schafft, mich innerhalb weniger Minuten zu beeindrucken. Mit gerade mal 19 Jahren studiert sie in diesem Millionen-Moloch. Direkt nach ihrem Abitur im Vorjahr ist sie mit ihren Eltern zusammen nach Shanghai gezogen. Sie lernt seit sechs Jahren chinesisch und fühlt sich in dieser Riesen-Stadt tatsächlich zuhause. Über ihre Zukunft spricht sie abgeklärt. Aber in einem positiven Sinn. Ihre nächsten Jahre hat sie nicht durchgeplant, weiß aber genau, was sie will und ungefähr, wie das funktionieren soll. Dabei behält sie sich aber dennoch eine erfrischende Offenheit gegenüber allen möglichen und unmöglichen Veränderungen. Sie erzählt, dass sie auch auf dem Weg zum Formel 1 Grand Prix ist und ich freue mich, eine so tolle Person für die nächste Stunde bei mir wähnen zu dürfen. So lange nämlich (und länger) braucht die U-Bahn von der Innenstadt bis zur Rennstrecke. Doch so schnell wie das Gespräch begann, so schnell, wie sie mich beeindruckte, so schnell ist sie auch wieder verschwunden. Sie müsse hier raus, weil sie sich noch mit ihrem Freund trifft. Sagt’s, verabschiedet sich kurz und ist genauso schnell weg wie sie gekommen war. Der Eindruck aber bleibt. Bis heute. Schade, dass ich sie nicht näher kennenlernen durfte.
Wie gesagt: sportlich ist das Rennen schnell erzählt. Nach dem Start verliert Nico Rosberg ein paar Positionen und arbeitet sich von Platz 7 aus zurück hinter Lewis Hamilton. Der Brite wiederum fährt einen sicheren Start-Ziel-Sieg ein. In den ersten zwei Dritteln des Rennens gibt es somit – nicht nur von Rosberg – ein paar spannende Positionskämpfe und Überholmanöver; für die letzten Runden hat sich das Feld dann aber irgendwann sortiert und fährt ohne jegliche Zwischenfälle einem ruhigen Ende entgegen.
Interessant ist übrigens, wie sich die F1-Autos heutzutage anhören. Als ich vor Jahren zum letzten Mal bei einem Grand Prix war, waren die Teile noch deutlich lauter. Als ich 2000 am Hockenheimring direkt am Zaun neben den startenden Autos stehe, habe ich das Gefühl, die Erde bebt. Kein Wunder. Damals waren die Motoren größer und es gab keinen Elektroantrieb. Ein Formel1-Auto von heute wird nicht mehr nur vom Verbrenner-Motor gespeist, sondern muss verschiedene Antriebstechnologien miteinander kombinieren. Damit möchte die Formel1 einen Forschungsanreiz für hybride Antriebstechnologien bieten. Das kann man jetzt gut oder heuchlerisch finden – darum soll’s hier aber nicht gehen. Unten mal ein Bild aus dem offiziellen F1-Magazin von der Rennstrecke, in dem illustriert wird, wie die neuen „Power Units“ aussehen. Außerdem ein paar Eindrücke von der Tribüne.
Jetzt ist aber wirklich genug mit dem sportlichen Teil. Denn wahrscheinlich seid Ihr ja nicht hier, weil Ihr irgendwas über die Formel 1 lesen wolltet, sondern weil Ihr wissen wolltet, wie eigentlich dieses Bild zustande gekommen ist. Und was dieses Gefasel von Freiheit im Anreißer soll. Sollt Ihr haben.
Wie Ihr auf dem Foto oben erkennen könnt, ist mein Platz ganz am Ende der Start-und-Ziel-Gerade. Das Podest, auf dem die besten drei Fahrer geehrt werden und wo sie sich gegenseitig mit Champagner bespritzen, steht allerdings genau am anderen Ende. Das finde ich ein bisschen schade, da ich gehofft hatte, auch etwas von der Siegerehrung mitzubekommen. Während der letzten Runden braut sich also in meinem Kopf der Gedanke zusammen, dass ich ja nicht an meinen Sitz gefesselt bin. Ich nehme mir also vor, dass ich – im Moment, in dem die Zielflagge fällt – die Beine unter die Hand nehme und ans andere Ende der Gerade renne. Natürlich nicht über die Tribüne sondern dahinter. Einmal ein paar Treppen runter, dann immer immer weiter geradeaus und irgendwo am anderen Ende wieder hoch. Und vielleicht habe ich ja Glück und erhasche noch einen guten Blick.

Und so werde ich während dieser Siegerehrung zumindest für mich persönlich auch zu einem kleinen Sieger. Denn ich habe es geschafft, mir einen Platz zu sichern, der besser fast nicht hätte sein können. Weil mein Bauch mir gesagt hat: „renn doch einfach“ und ich auf ihn gehört habe. Und einfach losgerannt bin. Wieso denn auch nicht? Das Schlimmste, was hätte passieren können, wäre gewesen, dass ich nicht rein komme und nichts von der Ehrung sehe. Das wäre ungefähr dasselbe Ergebnis gewesen, wie wenn ich auf meinem Platz geblieben wäre. Also: alles richtig gemacht!
Die Siegerehrung ist irgendwann vorüber – es geht ja alles mal vorbei. Beim Blick über meine Schulter auf die Rückseite der Tribünen stelle ich fest, dass es unten ein riesiges Menschengedränge gibt. Ganz normal, wenn bei Großveranstaltungen am Ende alle auf einmal nach Hause wollen. Kennt man ja von Fußballstadien, Konzerten…allem eben, wo viele Menschen Zuschauer sind. Nun habe ich ja bereits oben angemerkt, dass der Shanghai International Circuit sehr weit vom Stadtzentrum entfernt ist. Zwar ist die Station direkt am Ausgang der Haupttribüne und damit sehr gut angebunden, die Fahrzeit ist aber monumental. Ich glaube, es waren insgesamt ungefähr 1 Stunde und 20 Minuten, die man in der Bahn verbringen musste, bis man wieder in der Innenstadt war.
Als ich also so über meine Schulter schaue und diese Menschenmassen sehe, denke ich mir: „Ui, die U-Bahnen werden jetzt sicherlich vollkommen überfüllt sein. Da kann ich’s auch erstmal gemütlich angehen lassen.“
Also bleibe ich einfach auf der Tribüne, setze mich noch mal für einen Moment, lasse die Leute an mir vorüber ziehen und betrachte die Strecke. Und dann sehe ich auf der Start-Ziel-Geraden einzelne Menschen herum laufen. Ich erinnere mich an Bilder von verschiedenen Rennstrecken in der Welt und weiß, dass es in manchen Teilen Usus ist, dass die Fans nach dem Rennen die Strecke stürmen. Eigentlich ist das aber vom Veranstalter aber bis auf wenige Ausnahmen nicht gewollt und wo die Sicherheitskräfte restriktiver sind, da wird auch durchgegriffen und die Leute fern gehalten. Hier scheinen es einige geschafft zu haben und die laufen jetzt auf der Strecke rum. Will ich das auch? Naja, zumindest gucken, wo’s lang geht, kostet ja nix.
Ich bewege mich also langsam von der Tribüne weg, nutze das offene Treppenhaus aber, um ausfindig zu machen, ob es irgendwo Bewegungen entgegen des Abreisestroms gibt. Und entdecke tatsächlich ein paar Versprengte, die sich über einen Hügel auf den Weg zu einer anderen Tribüne machen. Und hinter dieser Tribüne wiederum erkenne ich, dass immer mehr Menschen auf der Strecke Richtung Start-Ziel-Gerade laufen.

Entgegen des Stroms mache ich mich also auf zu dieser Tribüne. Die Zuschauertore sind allerdings nicht zugänglich. Dort stehen Ordner, die Menschen raus, aber keine rein lassen. Ich schaue mich um und entdecke ein paar Leute, die den Hügel neben der Tribüne erklimmen und hinter der Kuppe – direkt neben der Tribüne – verschwinden. Als ich über die Kuppe rüber bin, sehe ich am Fuße des Hügels einen Zaun, hinter dem die Leute anstehen. Und einer nach dem anderen drüber klettern. Dahinter gibt es dann einen Zugang zur Tribüne und von dort aus sind es nur circa drei Meter Fallhöhe, die mich von der Strecke trennen. Auch hier stehen die Menschen wieder an, um nach und nach halbwegs koordiniert an einer Stele an der Tribüne nach unten zu klettern. Ich reihe mich ein und sauge die positive Aufgeregtheit der Chinesen um mich herum auf. Es ist eine Stimmung, in der ein kleines bisschen Freiheitsgeist lebt. Natürlich kein revolutionärer Geist. Aber schon ein bisschen der Gedanke „das dürfen wir eigentlich nicht. Aber es ist ganz cool, das mal auszuprobieren“. Die Leute helfen sich gegenseitig dabei, die Stele hinunter zu klettern und einer nach dem anderen gelangt so auf die Strecke.
Als noch ungefähr zehn Menschen vor mir stehen und ich schon ungeduldig (und ein bisschen schissrig) auf meinen Einsatz warte, wird die Gruppe um mich herum unruhig. Beim Blick nach vorne entdecke ich, wieso. Auf unsere Gruppe laufen vier chinesische Polizisten zu. „Shit!“, denke ich, „das war’s dann wohl“. Als die Polizisten bei unserer Gruppe ankommen, fangen sie an zu lachen. Und sagen etwas auf Chinesisch. Ich frage einen Chinesen vor mir, was sie denn gesagt haben und er sagt zu mir „they said: be careful, don’t fall!“
Und dann stehen sie da und schauen uns zu, wie wir die Stele hinunter klettern. Und scheinen sich ein kleines bisschen an dem Glück zu freuen, das jeder einzelne empfindet, der unten an der Strecke angekommen ist.

Es ist einer dieser wundervollen, kleinen Momente. In denen ich einfach selig bin, weil gerade etwas Schönes passiert ist. Nichts Großes, nichts Weltbewegendes. Aber ein kleines Zeichen der Güte, die es manchmal in der Welt gibt. Wenn in einem Land, das in der Vergangenheit weithin dafür bekannt wurde, dass die Regierung restriktiv und rigide gegen seine Bevölkerung vorgeht und das ich in der Gegenwart an vielen Stellen egoistischer und ellbogen-orientierter als viele rein-kapitalistische Staaten erlebt habe – wenn dieses Land plötzlich einen solchen Moment des Friedens hat. In dem die Staatsmacht milde lächelnd seiner Bevölkerung bei einer Straftat zusieht (die natürlich nicht viel mehr ist als ein Dummer-Jungen-Streich). Und die Bevölkerung dabei ausstrahlt: „okay, dass das geht, hätte ich nicht gedacht, aber es ist ziemlich cool“.
Auf der Start-Ziel-Geraden angekommen, komme ich so nah an die Formel1 wie nie zuvor in meinem Leben. Ich kann die abgestellten Autos fast berühren, so nah sind sie mir. Nur durch die Boxenmauer und einen Zaun getrennt. Auf die Boxenmauer kann man sogar klettern und so erkennen, was in der Boxengasse geschieht. Beispielsweise erleben wir mit, wie die Box Lewis Hamilton als Rennsieger hochleben lässt. Szenen, die man im Fernsehen so auch nur selten sieht. Ich wusste gar nicht, dass die so was nach jedem Rennen machen.

Neben vielen Chinesen treffe ich auf der Rennstrecke auch noch einige verrückte Formel1-Fans. Beispielsweise einen (latent alkoholisierten) Russen, der auf die Boxenmauer klettert und auf Russisch Anti-Putin-Sprechchöre intoniert (die ich mir natürlich von einem mitgrölenden Russen erst mal übersetzen lassen muss). Oder einen von Kopf bis Fuß auf Ferrari eingestellten Fan, der mir eines meiner buntesten Fotos beschert hat.

Am Eindrucksvollsten aber ist und bleibt der Typ mit dem Rucksack, von dem ich kein Bild habe. Und hätte ich eines, ich würde es hier nicht posten. Wieso? Weil ich nicht will, dass ihm in irgendeiner Form Unbill geschehen könnte. Auf dem Bild unten seht Ihr ein Plateau, auf dem zwei, drei chinesische Polizisten stehen. Dieses Plateau ragt in die Boxengasse hinein und von diesem Plateau aus gibt es zwei Treppen, die beide jeweils in die Boxengasse führen. Man erreicht es aber auch von der Seite der Rennstrecke aus – muss dafür aber auf die Mauer klettern.

Wenige Minuten, bevor dieses Foto entstanden ist, waren die Polizisten noch nicht da. Stattdessen standen auf diesem Plateau neben mir noch ungefähr 20 andere Leute, die von der Rennstrecke aus drauf geklettert sind. Wir standen quasi in der Boxengasse. Also zumindest drüber. Eben auf diesem Metall-Plateau. Dann plötzlich schien das aber irgendjemandem nicht zu passen und quasi aus dem Nichts kamen die Polizisten angerannt und scheuchten uns runter. Alle? Nun ja. Alle, bis auf einen. Den mit dem Rucksack. Anstatt nämlich gemeinsam mit uns zurück auf die Rennstrecke zu springen, geht er einfach seelenruhig an den Polizisten vorbei, die Treppe hinunter in die Boxengasse. Noch während er vorbei läuft, schaut er die beiden Polizisten an. Im Vorbeigehen. Als ob er sie mit seinen Blicken fragen will: „wollt Ihr mich nicht aufhalten?“. Als er an ihnen vorbei ist und unten in der Boxengasse steht – dem Heiligsten der Formel 1 – da schaut er mich an. Und seine Augen fragen: „passiert das hier gerade wirklich? Kann ich das machen? Die haben ja nix gesagt, also wieso eigentlich nicht?“ Und ich lächle. Dann dreht er sich um und läuft los. Und läuft die Boxengasse entlang.
Für einen Moment überlege ich, ob ich hinterher laufe. Und stelle fest, dass ich in diesem Moment riskieren würde, dass es für uns beide platzt. Dass sie mir den Weg versperren, auf ihn aufmerksam werden und ihn auch raus holen. Also springe ich einfach von der Boxenmauer zurück auf die Rennstrecke. Und laufe die Rennstrecke entlang. Nur wenige Meter entfernt, durch eine Mauer und einen Zaun getrennt, der Typ im Rucksack. Er ist immer noch da und er läuft immer noch die Boxengasse entlang. Macht hier ein Foto und da. Und wird von niemandem gestört oder aufgehalten. Ich weiß, dass er in diesem Moment einen der besten Momente seines Lebens erlebt. Einen Moment, von dem er noch seinen Kindern und Enkeln erzählen wird. „Wie ich in der Boxengasse von Shanghai rumgelaufen bin“. So oder so ähnlich wird seine Geschichte lauten. Und vielleicht steht sie heute in irgendeinem Blog irgendwo auf der Welt und ich habe keine Ahnung davon. Ich verliere den Typen aus den Augen. Und bin glücklich, dass er diesen Moment erleben durfte. Und bin auch ein bisschen stolz darauf, dass ich nicht riskiert habe, ihn kaputt zu machen, sondern im richtigen Moment zurück gesteckt habe. Glück ist das einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt. Irgendwie gar nicht so blöd, oder?
Ich habe jetzt alles gesehen, zig Fotos gemacht und dann noch diese Geschichte mit dem Typen mit dem Rucksack erlebt. Jetzt stehe ich hier – mitten im Gewusel auf dieser Rennstrecke. Um mich herum immer noch aufgedrehte Chinesen, die es immer noch aufregend finden, was sie alles sehen. Hier machen Leute Fotos, dort posieren sie auf der Strecke. Und da fällt mir die einzige Pose ein, die ich jetzt machen möchte. Weil sie ausdrückt, wie ich mich fühle. Wie ein ruhender Pol mitten im Auge des Sturms. Wie jemand, der angekommen ist, mitten im umtriebigen Gewusel. Und darum gibt es für mich nur ein passendes Motiv, das diese Stimmung festhalten kann. Der absolute Anti-Pol, der maximale Gegensatz. Die Meditations-Haltung als Symbol vollkommener innerer Ruhe auf dem wohl hitzigsten Punkt einer Rennstrecke – einer Start-Position auf der Start-Ziel-Geraden. Und so ist dieses Foto entstanden. Nicht nur, weil es gut aussieht. Sondern, weil es genau das aussagt, was es über diesen Moment sagen soll. Weil ich mich genauso gefühlt habe. Und wahrscheinlich sieht es auch nur deswegen gut aus.
Das Foto ist eines der Symbole dieser Reise. Wer es schafft, auch im größten Sturm seine innere Ruhe zu bewahren, der wird lächeln. Ehrlich lächeln. Lächeln, weil er zufrieden ist. Weil er Glück gefunden hat. So klein oder groß, so nah oder fern, ob bei sich selbst oder bei anderen. Es ist das schönste Gefühl, das es gibt. Und auch wenn Geld der Ausgangspunkt war, der mich überhaupt erst an diesen Ort geführt hat – dieses Lächeln ist mit Geld nicht zu erwerben.

Ich bin glücklich. Ich kann nach Hause gehen. Und mache mich auf den Weg, als mir jemand auf die Schulter tippt. „Ferdinand?“ Ich drehe mich um. „Hannah?“ Und bevor wir fassen können, wie unglaublich der Zufall ist, der uns jetzt hier wieder zusammengeführt hat, erzählen wir uns Geschichten. Die Geschichten, die wir mit und vor allem nach diesem Rennen erlebt haben. Und die Geschichten, für die am Vortag so plötzlich die Zeit gefehlt hat. Währenddessen machen wir uns auf den Weg. Während wir zur U-Bahn schlendern und uns weiter in Gespräche vertiefen, frage ich irgendwann, wo denn ihr Freund sei. Der sei ihr jetzt egal. Er wäre heute eh so abgelenkt gewesen, dass sie jetzt auch keinen Bock hätte, Rücksicht auf ihn zu nehmen. Der käme schon nach Hause. Ich frage, ob er nicht eifersüchtig werden würde, wenn seine Freundin jetzt mit irgendeinem Typen in die Stadt fährt, statt mit ihm. Sie sagt, dass ihm das nichts ausmacht. Ich bin verwirrt, aber glücklich. Denn so können wir unsere Gespräche weiter vertiefen. Die Stunde in der U-Bahn vergeht wie im Flug. Die Erzählungen sprudeln aus uns heraus und auf Basis dessen, wie dieses Mädchen spricht und was sie erlebt hat und wie sie die Welt sieht, kann ich mir nur über ihre Aussage und ihr Aussehen bewusst machen, dass sie tatsächlich erst 19 ist. Ich hätte so viel Lust, sie einfach einzupacken, zwei Flaschen Wein zu kaufen und mich mit ihr auf irgendein hohes Dach (und davon gibt es einige in Shanghai) zu setzen und die ganze Nacht und den nächsten Tag zu reden. In diesen interessanten Menschen einzutauchen. Ein Stück von ihr mitnehmen. Sie erleben.
Irgendwann aber ist die Stunde vorbei und der nächste Abschied unvermeidlich. Diesmal allerdings verabreden wir uns für den nächsten Abend. Und werden uns auch wiedersehen. Dort. Und einige Monate später in Deutschland, nachdem sie sich entschieden hat, doch erst mal wieder zurück zu kehren. Erst bei unserem Treffen in Deutschland erfahre ich mit einigem Erstaunen, dass es sich seinerzeit bei ihrem Freund gar nicht um ihren Partner sondern lediglich um einen guten Freund gehandelt hat. Ich bin erstaunt. Denn dieses Missverständnis war die Basis dafür, dass einige Dinge nicht passiert sind, andere dagegen schon. Manchmal geht das Leben diese Wege und wir wissen in diesen Momenten überhaupt nicht wieso.
Dass sie damals vermeintlich einen Freund hatte, hat mich davon abgehalten, jegliche Bemühungen zu intensivieren. Aus Respekt. Weil ich nichts Ernsthaftes kaputt machen wollte für die Chance auf vielleicht eine faszinierende Nacht oder einen besonderen Moment. Dieses Missverständnis allerdings hat das verhindert. Und damit Folgen gehabt. Denn hätte es dieses Missverständnis nicht gegeben, dann hätten wir heute vielleicht keinen Kontakt mehr. Vor allem aber hätte es dann die Jasmin-Blüte von Shanghai nie gegeben. Beides wäre ein unglaublicher Verlust gewesen. Vielleicht hat es also einfach so sein sollen. Ich mag diesen Gedanken. Sehr.