
Patagonien hat die leerste Landschaft, die ich jemals gesehen habe. Eine Landschaft, die einem zeigt, was „alleine sein“ bedeuten kann. Und trotz ihrer schroffen Leere wirkt sie einladend. Wunderschön. Und bietet neben endloser Weite auch noch endloses Mund-Offen-Stehen. Wenn man sich in El Chalten aufmacht, den Fitz Roy zu betrachten. Oder einem der größten Gletscher der Welt beim Wachsen zuschaut.
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Patagonien ist eines der Ziele, das auf meine Liste gewandert ist, weil ich Augen, Ohren und Herz offen gehalten habe. Ohnehin war klar, dass ich nach Südamerika will. Die Iguacu-Fälle sehen, Wildnis, Tiere, Natur. Aber wohin genau, wollte ich auf mich zukommen lassen. Dankbarerweise war ein guter Freund und ehemaliger Arbeitskollege – BackpackerSteve – ein paar Wochen/Monate vorher in Südamerika und hat einige interessante Beiträge dazu veröffentlicht. Einer davon handelte vom Perito Moreno Gletscher, dem angeblich zweitgrößten extrapolaren Gletscher der Welt. Ein paar Tage später sprach ich dann mit einem Arbeitskollegen aus einer ganz anderen Ecke, der vollkommen unabhängig von El Chalten schwärmte. Wie es der Zufall so will, liegt beides recht eng beieinander. Ich konnte also gar nicht anders: ich musste da hin!
Eigentlich war geplant, dass ich mit dem Bus von Puerto Madryn nach El Calafate fliegen würde. El Calafate ist quasi das Hub für touristische Aktivititäten da unten in der Südspitze Argentiniens. Durch die Ereignisse in Buenos Aires verpasste ich allerdings meinen Flieger nach Puerto Madryn und mein Zeitplan wurde deutlich enger als geplant. Das führte schließlich auch dazu, dass ich Torres del Paine von meiner Liste streichen musste. Ich flog also – einige Tage später als geplant – direkt von Buenos Aires nach El Calafate.
Der Kontrast zwischen Buenos Aires und Patagonien ist einer der Gründe, wieso Fliegen so faszinierend ist. Wir können innerhalb weniger Momente (Stunden) in eine ganz andere, komplett unterschiedliche Welt katapultiert werden. Nirgendwo habe ich den Kontrast bisher so deutlich erlebt wie an diesem Flug. Als wir in Buenos Aires abheben und ich einen letzten Blick auf diese Stadt zurück werfe, wird mir noch ein letztes Mal bewusst, wie riesig dieser 13-Millionen-Moloch ist. Irgendwo unter diesen 13 Millionen ist Fred jetzt gerade. Und ich bin oben, schaue runter und kann die Größe kaum fassen. Ich schaue auf Buenos Aires, bis wir durch die Wolkendecke gestoßen sind und nichts mehr außer weißen Schwaden und der Sonne zu erkennen ist. Dann widme ich mich meinem Reisetagebuch, lese etwas oder schlafe. Immer wieder schaue ich aus dem Fenster, um zu erkennen, wo wir gerade sind. Meistens sehe ich aber nur Wolken, ab und an mal die Küste. Nach über zwei Stunden merke ich, dass wir langsam absinken und klebe am Fenster. Aber ich sehe weiterhin nur Wolken. Eine dichte Decke von Wolken, wie man sie ja kennt, wenn man schon ma geflogen ist. Man erkennt einfach überhaupt nicht, was drunter ist. Und natürlich erwartet man auch nichts. Ich jedenfalls ging davon aus, dass ich gleich eine Landschaft sehen sollte, wie ich sie von überall her kennen. Ich sollte mich irren.
Als uns die Wolkendecke nach unten hinaus ausspuckt, blicke ich auf eine Landschaft, die ist, wie nichts, was ich vorher gesehen habe. Noch nicht mal annäherungsweise. Die Landschaft ist graubraun, steinig, sandig, schroff und vor allem: endlos weit und endlos leer. Über Kilometer nur Steine, ein paar kleine Büsche und sonst nichts. Kein Haus, kein See, kein Baum. Es sieht aus , wie ich mir den Mond immer vorgestellt habe. Da ist absolut nichts. Und genau das macht es so unglaublich faszinierend. Ich sitze gebannt am Fenster, versuche, irgendeine Form von Leben zu erhaschen. Irgendetwas zu sehen, was mich an etwas erinnert, das ich kenne. Und sehe kilometerweit, minutenlang nur Mondlandschaften. Und bin dabei so fasziniert, dass ich überhaupt nicht daran denke, ein Foto zu schießen.

Irgendwann sind wir nur noch wenige Meter über dem Boden. Geändert hat sich die Landschaft aber nicht. Ich hatte erwartet, dass man irgendwann eine Stadt sehen würde oder vielleicht den Gletscher von oben oder sowas. Aber nichts. Wir sind 20 Meter über dem Boden und immer noch vollkommen im Nichts. Nein, das stimmt nicht ganz. Ganz in der Nähe erkenne ich einen See. Immerhin Wasser. Wir sind also nicht durch irgendeinen komischen Zufall tatsächlich auf dem Mond gelandet.

Dafür landen wir jetzt auf dem Flughafen in El Calafate. Der besteht aus einem kleinen Terminal-Gebäude (recht neu, der Tourismus scheint sich prächtig zu entwickeln), einer Landebahn, wahrscheinlich einem Zaun irgendwo und endlosen Weiten. Ich hatte mich vorher erkundigt, wie ich jetzt vom Flughafen in „die Stadt“ komme. Man kann im Terminal-Gebäude einen Mini-Transporter buchen, der einen dann rein fährt. Das Ticket ist schnell gekauft, den Transporter vor der Tür finde ich auch – genau wie ein paar andere Reisende. Nur der Fahrer ist nicht da. Der Transporter steht da, der Schlüssel steckt, die Tür ist offen und der Motor läuft. Aber der Fahrer ist nicht da. Ist das jetzt überbordendes Vertrauen, Egalitarismus oder das banale Wissen, dass wir eh nicht wüssten, wo wir hin fahren sollen? (Oder einfach eine Natur-Schweinerei…aber das steht auf einem anderen Blatt). Es ist auf jeden Fall ein interessantes Gefühl mit ein paar Fremden neben diesem VW-Bus mit laufendem Motor zu stehen, auf einem Parkplatz neben einem Flughafen mitten im Nirgendwo. Und ich merke meinen neuen Mitreisenden an, dass es ihnen allen ganz genau so geht. So entspinnt sich auch kaum ein Gespräch, das über die normalen Höflichkeitsfloskeln hinaus geht. Wir sind alle noch viel zu sehr geflasht von dieser Atmosphäre. Und eh nur eine Zweckgemeinschaft für die nächsten Minuten, bis wir unsere jeweiligen Hotels erreicht haben. Nach ungefähr 15 Minuten kommt dann irgendwann auch der Fahrer und es geht los. Und ich sehe das erste Mal unser Ziel – die Stadt „El Calafate“.

Meine Reise ist aber noch nicht beendet. Da ich ja einigermaßen unter Zeitdruck stehe, weil ich das Frachtschiff in Puerto Natales übermorgen erreichen möchte, muss jetzt alles etwas stringenter funktionieren. Mit dem Hostel habe ich bereits vorher abgeklärt, wie ich meinen Trip nach El Chalten und einen Besuch am Gletscher hinbekommen könnte. Wir haben uns geeinigt, dass ich mein Gepäck schnell im Hostel in El Calafate ablade, eine Tasche für einen Tag packe und dann sofort in den Bus nach El Chalten springe. Im Hostel treffe ich dann noch Martin, mit dem ich das alles per E-Mail ausgemacht hatte, bedanke mich herzlich bei ihm, lasse mich mit Kartenmaterial und Tickets ausstatten und starte in Richtung Busbahnhof. Auf dem Weg dahin schaue ich mir noch die Einkaufsstraße von El Calafate an (die deutlich mehr nach Touristenort aussieht als der eigentliche Ort – und ich weiß immer noch nicht, ob ich das gut oder schlecht finde). Dort esse ich noch ein sehr leckeres, sehr süßes, sehr schokoladiges Stück Kuchen. Und trinke eine heiße Schokolade. Warum? Darum!

Das Bergsteigerdörfchen El Chalten erreiche ich in vollkommener Dunkelheit und bei leichtem Regen. Mit einer Papierkarte in der Hand versuche ich mich zwischen Straßenlaternen durch zu navigieren, frage in zwei Bars (mit jeweils drei Insassen) nach dem Weg und erreiche mein Ziel dann doch schneller als zunächst gedacht. El Calafate war ja schon angenehm ruhig, aber gegenüber El Chalten eine ziemliche Party-Metropole. Boah, ist dieser Ort ruhig und gechillt.
An der Rezeption meines Hostels lasse ich mir erklären, welche Wander-Routen man zum Fitz Roy nehmen kann. Wichtige Info am Rande: der Fitz Roy ist der Berg, wegen dem man hier her kommt.
Es gibt drei Wege, unterschiedlich lang, unterschiedlich steil. Wenn ich um 7 Uhr aufstehe, dann habe ich 10 Stunden Zeitbudget, bis mein Bus zurück nach El Calafate fährt, rechne ich aus. 8 Stunden dauert die längste Tour, Frühstück kann man sich als Fresspaket mitgeben lassen. Zwei Stunden Puffer sollten ja wohl ausreichen, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt alles andere als bergsteige-affin, fit oder sportlich bin. Zudem läuft mir bei der Ausstattung der anderen Gäste im Hotel der blanke Schauer den Rücken runter. Thermo-Hosen, Wander-/Bergsteige-Schuhe, Handschuhe, Spezial-Mützen und so viele Dinge mehr, die man bei Globetrotter kaufen kann. Ich dagegen habe eine feste Hose, meine Fleece-Jacke, meine Softshell und meine Füße werden von meinen Lieblingsschuhen, Adidas Sambas, gekleidet. Den Everest würde ich so auch nicht besteigen. Aber für nen Spaziergang zum Fitz Roy wird’s ja wohl reichen, oder? Rock’n’Roll!

Es ist die längste und anstrengendste Wanderung, die ich in meinem Leben bis dahin unternommen habe. Für manche sicherlich ein Kinkerlitzchen, für mich schon ne Aufgabe. Besonders der letzte Anstieg hatte es in sich. Ist aber – auch wenn man nicht vollständig austrainiert ist – für „normale“ Leute vollkommen machbar. Auch mit normalem Schuhwerk.
Ach ja, es war nicht nur die bisher anstrengendste…es war definitiv auch die schönste Wanderung, die ich bisher gemacht habe. Eindrücke? Bitte schön.
Ich komme überpünktlich in El Chalten an und habe noch Zeit für ein Bier, bevor es zurück zum Busbahnhof geht. Nachdem ich auf 1.500 Meter war und Schnee gesehen und angefasst habe, sitze ich jetzt bei 20 Grad in der Sonne und lasse mir ein in El Chalten gebrautes Bier schmecken. Schmeckt auch richtig gut. Dann geht’s „zurück“ nach El Calafate und am nächsten Tag zum Gletscher.
Der Perito Moreno Gletscher ist touristisch perfekt erschlossen. Am Busbahnhof von El Calafate kann man Busse buchen, die einem die ganze Tour liefern. Hinfahren, ab auf ein Boot, über den See nah an den Gletscher ran, zurück in den Bus, das einen zu den zahlreichen Geländern bringt, über die man von oben, unten, links und rechts auf das Teil gucken kann und dann vier Stunden später wieder zurück in den Bus und zurück nach El Calafate. Das Faszinierende am Perito Moreno ist, dass der Gletscher einer der Wenigen auf der Welt ist, die noch wachsen. Jeden Tag um knapp zwei Meter schiebt sich der Eisriese weiter in Richtung Land und durch die dabei entstehende Bewegung krachen immer wieder riesige Eisstücke aus dem Gletscher raus. Die können dann gerne mal so groß wie ein großes Auto oder ein kleines Haus sein. Ab und an ist mal ein Glücklicher dabei, der seine Kamera zum rechten Zeitpunkt gezückt hat.
Die Phänomene, die man direkt am Gletscher spürt, sind ungewohnt, wie so vieles. Aber toll. Die Kälte, die irgendwie surreal wirkt. Man steht da bei ungefähr 15 Grad und direkter Sonneneinstrahlung. Steht auf einem Geländer und die Sonne knallt einem auf den Rücken. Und von vorne – von da, wo der Gletscher steht – kommt was Kaltes. Ganz seltsames Gefühl. Wie wenn man die Hand nah an einer Kerze hat. Oder an einem Eiswürfel. Man spürt die extreme Temperatur, die davon ausgeht, auch, wenn man sie nicht unmittelbar durch Berührung erlebt. Und auch die Urgewalten, die entstehen, wenn da so ein Eisbrocken runter kracht, sind nicht vorstellbar, wenn man’s nicht selbst gesehen und erlebt hat. Da kann auch kein Video mithalten. Noch unvorstellbarer, was alle paar Jahre mit dem Gletscher passiert. Da sich das Teil ja in Richtung Landmasse ausbreitet, gibt es irgendwann Kontakt mit der Landmasse. Ab diesem Zeitpunkt baut sich ein natürlicher Staudamm aus Eis auf. Und der staut Wasser an. Denn das Wasser, was vor dem Gletscher rum liegt, hat eine Fließrichtung (auf den Fotos von links nach rechts). Verschließt nun der Eisdamm diesen Fluss, dann steigt der Pegel auf der linken Seite. Und zwar so lange, bis der Druck des Wassers auf den Eisdamm so groß wird, dass das Eis das nicht mehr zurückhalten kann. Dann platzt der Damm. Zerfällt in tausende Bruchteile. Die Überreste davon sieht man auf einzelnen Bildern unten in der Galerie. Das mitzuerleben muss ein Hammer sein. Sooo glücklich war ich dann aber diesmal doch nicht. Man kann ja auch nicht alles haben.
Nach zwei Stunden am Gletscher habe ich das Teil von allen Seiten gesehen. War auf jedem Geländer, habe von überall fotografiert, habe Abbrüche gesehen. Eigentlich das volle Programm gehabt. Und trotzdem stehe ich die letzte Stunde an einem Punkt, starre auf einen Eisbrocken und warte darauf, dass die Spalte endlich so groß ist, dass das Ding runter kracht. Und höre auf jedes kleine Knistern, freue mich über jeden Sonnenstrahl, der auf den Gletscher trifft und hoffe, dass ich es noch miterlebe, wie der Riesen-Eiswürfel abbricht, bevor mein Bus nach El Calafate fährt. Und wie ein Süchtiger vertröste ich mich immer weiter. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich um 13:30 Uhr auf den Weg zum Bus zu machen. Um 13:30 Uhr lasse ich mich auf weitere fünf Minuten und auf weitere und auf weitere. So gegen 13:50 Uhr sage ich mir, dass ich es in 8 Minuten zum Bus schaffen sollte, wenn ich renne. Ich warte und warte und es passiert…nichts. Um 13:53 Uhr laufe ich los. Und jetzt bekomme ich Panik. Um 14:00 Uhr fährt der Bus, haben sie gesagt. Ob wir da sind oder nicht. Ich renne über Treppen und lange Tribünen. Immer nach oben, das macht es nicht viel leichter. Und erreiche das Hochplateau mit unserem Bus um 13:59 Uhr. Außer Atem. Leicht schwitzend. Aber erfolgreich. Ich gehe stolz in den Bus, der Fahrer schaut mich an, wie wenn ich der letzte wäre. Bin ich aber nicht. Wir stehen noch ungefähr 30 Minuten da, weil wir auf ein italienisches Pärchen warten, das 14:00 Uhr eher als Vorschlag betrachtet hatte. Und auch hier lerne ich: stress Dich nicht: et hätt noch immer jot jejange!
Ein bisschen ungemütlich ist mir allerdings schon. Weil ich nämlich um 16:30 Uhr in El Calafate in meinem nächsten Reisebus einsteigen muss. Damit ich am nächsten Tag aufs Schiff steigen kann. Aber das ist eine andere Geschichte.